In den vergangenen Wochen gab es ein paar Vorkommnisse, die Saudi-Arabien als Gastgeber von Fußball-Events in ein fragwürdiges Licht gerückt haben. Wir haben uns mit dem Sportpolitik-Experten Dr. Jürgen Mittag über die Hintergründe und die Auswirkungen unterhalten.

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Die andere Seite Saudi-Arabiens mag viele Fußball-Fans überrascht haben. Bislang war der Wüstenstaat ein "neureicher Gastgeber", der im großen Sportgeschäft mitspielen möchte. So zumindest der oberflächliche Eindruck. Tatsächlich wollen die Saudis durch ihre Milliarden und das damit verbundene Sportswashing das eigene Ansehen aufpolieren und von Missständen ablenken. Traditionellen Sportfans missfällt es, dass immer mehr Events in die Wüste verlegt werden, dass Superstars wie Cristiano Ronaldo, Sadio Mane oder Karim Benzema dem Ruf des großen Geldes folgen und in der sportlich bedeutungslosen nationalen Liga spielen. Größere Konflikte rund um Saudi-Arabien als Gastgeber blieben jedoch lange aus. Bis jetzt.

So wurde Ende Dezember der türkische Supercup zwischen Fenerbahce und Galatasaray Istanbul kurzfristig abgesagt. Eine hochpolitische Entscheidung mit einem ebenso hochpolitischen Hintergrund. Dabei ging es darum, dass die Spieler der beiden Klubs mit einem Banner und T-Shirts das Feld betreten sollten, auf denen das Atatürk-Zitat "Frieden zu Hause, Frieden in der Welt" zu lesen war. Dazu muss man wissen, dass Atatürk immer noch so etwas wie der über den Dingen schwebende, laizistische Gründungsvater der Türkei ist.

Die Staatsräson der Türkei ist seit Atatürk eine Trennung von Staat und Religion. Saudi-Arabien ist wiederum ein Staat, der in seiner politischen Ausrichtung dem laizistischen Konzept der Türkei entgegensteht und stärker religiös geprägt ist. Das ist nur eine Facette, es ist ein vielschichtiger Konflikt, der mit der Absage des Spiels offen ausgetragen wurde und diesmal tatsächlich eskaliert ist - als Affront auf mehreren Ebenen.

Hohe Eskalationsstufe erreicht

Für den Sportpolitik-Experten Dr. Jürgen Mittag kommt diese emotionale Politisierung des Sports "nicht wirklich überraschend. Doch es ist außergewöhnlich, dass man ein Spiel absagt, das auf langfristig ausgehandelten Verträgen und hohen finanziellen Zuwendungen basiert und damit so eine relativ hohe Eskalationsstufe erreicht hat", sagte Mittag im Gespräch mit unserer Redaktion. Für Saudi-Arabien ist diese Eskalation Teil der Lernkurve im komplizierten Bereich der Sportdiplomatie. Mit dem Sportswashing will man Aufmerksamkeit, Einfluss und eben auch ein auf Hochglanz poliertes Image kreieren. Die Problematik rund um den türkischen Supercup hat aber gezeigt, dass dies keine Einbahnstraße ist, kein Selbstläufer und mit Geld zwar viel, aber dann doch nicht alles zu kaufen ist.

Probleme und Einstellungen treten im Zusammenspiel offen zutage, wenn unterschiedliche religiöse Ansichten und politische Forderungen aufeinandertreffen, wenn verschiedene Kulturen den Sport auch für die eigene Agenda nutzen wollen. Denn die Grenze, wie viel Politik der Sport verträgt, ist fließend. Saudi-Arabien wird aus der Schmach der Absage lernen, "dass man solche Dinge im Vorfeld möglichst noch wasserdichter regelt, um einen Image-Schaden in Zukunft zu vermeiden. Saudi-Arabien wird weiterhin eine steile Lernkurve erleben", sagt Mittag.

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Die Absage legt aber auch Konflikte in der Türkei offen. Die deutlichen Verweise der beiden Vereine auf Atatürk seien, so Mittag, auch gegen Erdoğan gerichtet, der eben nicht für eine laizistische Türkei steht. Zudem haben vor allem die Fans von Fenerbahce Erdoğans Politik immer wieder kritisiert, im Spiel gegen Konyaspor im Februar 2023 wurde sogar zu dessen Rücktritt aufgerufen.

Ein Zeichen für den Fußball?

Für Mittag ist die Absage auch ein Zeichen für die aktuelle Lage des Fußballs. Die Absage zeige auch, mit wie viel Politisierungsbereitschaft und kulturell überlagertem Anspruch sich der organisierte Sport in den nächsten Jahren weiterhin konfrontiert sehen werde. "Unterhalb von Welt- und Europameisterschaften werden solche Spiele als Plattform für weitere politische Auseinandersetzungen dienen", sagt der Sportpolitik-Experte. "Es geht so emotionalisiert und erregt zu, dass Sportgroßereignisse immer wieder eine Bühne für Themen bieten, an denen sich die Konflikte entzünden."

Eine Politisierung als Dauerzustand sozusagen. Damit verbunden ist Frage, wo und wie künftige Diskussionen, Proteste oder Auseinandersetzungen geführt werden. Mittag geht fest davon aus, dass der arabische Raum, konkret neben Saudi-Arabien auch Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate, in den kommenden Jahren und Jahrzehnten eines der Zentren des Fußballs und des Sports allgemein bleiben wird. "Die strategischen Ziele und die damit verbundenen Ziele staatlicher Akteure im arabischen Raum werden dazu führen, dass sich die Gewichte des internationalen Sports und damit auch die politischen Perspektiven deutlich verändern", sagt Mittag.

Denn es ist nicht nur der Wüstenstaat, der eine klare politische Haltung einnimmt, auch die Zuschauer positionieren sich. Was jüngst beim spanischen Supercup deutlich wurde, als die Fans in Riad während der Gedenkminute für die verstorbene deutsche Fußball-Legende Franz Beckenbauer pfiffen und diese verbale Abneigung später auch Real Madrids Toni Kroos zu spüren bekam. Kroos selbst glaubt, dass seine kritischen Kommentare zu den millionenschweren Wechseln nach Saudi-Arabien aus dem Sommer der Grund für die Pfiffe gegen ihn sein könnten. Warum Beckenbauer Zielscheibe der Unmutsäußerungen wurde, ist unklar und überrascht auch Mittag.

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Pfiffe und Buhrufe für den "Kaiser"? Nicht untypisch

Die Pfiffe oder Buhrufe sind aber generell "eine emotionale Haltung, die für den arabischen Raum nicht ganz untypisch ist", sagt Mittag. Im Fall von Beckenbauer könnte es daran liegen, dass sich Deutschland in den letzten Jahren "als Wortführer einer Menschenrechtsposition präsentiert und sich anders als viele andere Staaten deutlich und exponiert hervorgetan hat mit der politischen Haltung. Und man jetzt mit 'anderer Waffe' zurückschlägt, indem man Antipathien zum Ausdruck bringt." Es bleibt allerdings abzuwarten, ob sich eine solche Konstellation auch bei anderen Gelegenheiten zeigt.

Wird es durch die Ereignisse nun möglicherweise ein Umdenken geben? Zum Beispiel, was die Austragung einzelner Highlight-Spiele in Saudi-Arabien und Co. angeht, die bei Fans sowieso stark in der Kritik stehen? "Der ein oder andere Verband wird es sich überlegen, inwieweit er weiterhin auf die Saudi-Arabien-Karte setzt", glaubt Mittag. Der Großteil werde sich aber weiterhin einkaufen lassen, sagt der Experte: "Und mit Blick auf die sich abzeichnende Austragung der WM 2034 in Saudi-Arabien wird das Land weiterhin gigantische Investments tätigen."

Eine neue Welle an Protesten

Wer nun aber glaubt, dass Supercup-Spiele, Formel-1-Rennen, Asienspiele oder Weltmeisterschaften im arabischen Raum irgendwann zur gelassenen Gewohnheit werden, der sieht sich getäuscht. Sollte Saudi-Arabien offiziell den Zuschlag für die Fußball-WM 2034 erhalten, "werden wir eine neue Welle von Protesten erleben, die wahrscheinlich noch über die Katar-Protestwelle hinausgehen. Daran wird sich der internationale Sport weiter entzünden", glaubt Mittag.

Man werde sich mit Saudi-Arabien als Land, mit der Geschichte, mit der Tradition, mit den politischen Strukturen, mit der Menschenrechtslage, mit der Rolle von Frauen sehr intensiv befassen, erklärt Mittag: "Und das ist weiterhin sehr kritisch zu sehen, weil Saudi-Arabien als harte Autokratie kaum demokratische Teilhabe erlaubt, Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind und der Staat zudem sehr fundamentalistisch geprägt ist." Weshalb die andere Seite Saudi-Arabiens eigentlich niemanden mehr überraschen sollte.

Über den Gesprächspartner

  • Jürgen Mittag ist als Professor für Sportpolitik an der Deutschen Sporthochschule Köln tätig. Der Titel der Professur "Sportpolitik" passt perfekt zu seinem Werdegang. "Für mich eine ziemlich perfekte Quintessenz meiner bisherigen Studien und akademischen Stationen", sagt Mittag. Das Institut des 52-Jährigen trägt den Titel eines Jean-Monnet-Lehrstuhls und zielt damit auf ein besseres Verständnis der Europäischen Union ab, indem verstärkt europäische Themen vergleichend in Forschung und Lehre untersucht werden.
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