Deutschland schlägt die Ukraine, Bastian Schweinsteiger freut sich diebisch über ein Tor, Jérôme Boateng legt die Abwehraktion des Turniers hin. Und trotzdem gibt es auch einige Schwächen, die das Team in den Griff bekommen muss. Ein Innenverteidiger könnte dabei bald schon helfen.

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Den Spruch des Abends lieferte Joachim Löw. "Es ist gut, wenn meinen einen Boateng als Nachbarn in der Abwehr hat", sagte der Bundestrainer und schmunzelte dabei.

Die unsäglichen Debatten der letzten Tage geißelte Löw noch einmal in einem einzigen, knackigen Satz. Boatengs Rettungstat auf der Linie war so lange das Bild des Abends, bis Bastian Schweinsteiger in der Nachspielzeit auf den Plan trat.

Ein Konter, ein Sprint, ein Dropkick, ein Tor. Gleichbedeutend mit dem Ende einer wirklich langen Leidenszeit? Bewertet man Schweinsteigers ausgelassenen Jubel und seine echte Freude darüber, kann man nur zu dem Schluss kommen.

Der Mann hat Meisterschaften errungen, die Champions League und eine Weltmeisterschaft gewonnen - und freut sich dann über ein 2:0 in der Nachspielzeit so euphorisch und glücksbeseelt wie selten zuvor.

"Alles ist sehr gut. Meine Verletzung ist ausgeheilt, ich fühle mich gut. Der Weg nach dem Jubel war lang, ich bin ein bisschen außer Atem. Es war unglaublich, dass es so etwas gibt. Das kann man sich nur wünschen", sprudelte es förmlich aus dem Kapitän a.D. heraus.

Glückliches Händchen von Löw

Löws Plan war ein ganz anderer, als er Schweinsteiger einwechselte und der nur Sekunden später traf. Der Routinier sollte eigentlich die zweiten Bälle aufsammeln, die in der Schlussphase nach den vielen langen Schlägen der Ukrainer in der deutschen Hälfte zwangsläufig entstanden.

Und dann so etwas. "Eigentlich war nicht geplant, dass Basti so weit vorne auftaucht. Er sollte für Ruhe und Ordnung sorgen…"

Jedenfalls zeigte Jogi Löw ein glückliches Händchen mit dieser Einwechslung - so wie er bei Shkodran Mustafi als Nebenmann für Jérôme Boateng ziemlich richtig lag. Mustafi zeigte in der Defensive ein starkes Spiel und traf Mitte der ersten Halbzeit zum wichtigen 1:0.

Der viel Gelobte wollte seine eigene Leistung nicht groß kommentieren, gab aber wenigstens eine Einschätzung zur allgemeinen Lage ab. "Es war wichtig, mit einem Sieg zu starten, noch dazu zu Null. Es war zum Teil auch ein offenes Spiel, es war ein englisches Spiel. Es ging hin und her, was wir eigentlich nicht wollten."

Womit, elegant verpackt, auch schon eine andere Erkenntnis angedeutet wurde. Trotz des Sieges, des perfekten Auftakts in diese Europameisterschaft, offenbarte der Weltmeister gegen den Außenseiter auch teilweise gravierende Mängel.

Besonders in der ersten Halbzeit entglitt Deutschland nach der Führung die Partie, heraus kam ein wildes Hin und Her wie in der Verlängerung eines K.o.-Spiels.

Einige offensichtliche Probleme

Die Deutschen wurden immer schludriger in ihrem Passspiel in der Offensive und der Art, wie sie sich dabei positionierten. Bei den folgenden Ballverlusten klafften so enorme Lücken im Gegenpressing.

Konnten die immer mutiger werdenden Ukrainer diese löchrigen Linien überspielen, wartete dahinter nur noch eine stark aufgelöste Restverteidigung des Gegners.

Die DFB-Elf ließ einige gefährliche Konter zu, einer davon hätte beinahe den Ausgleich bedeutet - hätte Boateng nicht spektakulär gerettet.

"Wir mussten schon einige heikle Situationen überstehen. Wir hatten in der ersten Halbzeit ein Loch zwischen Abwehr und Offensive. Da müssen wir von der Raumaufteilung besser sein. Wir hatten in der ersten Halbzeit in der Vorwärtsbewegung auch ein paar Ballverluste. Auch da müssen wir uns steigern", sagte Löw nach dem Spiel.

Überlegenheit, aber kaum Chancen

In der Halbzeitpause habe er die Missstände angesprochen, fortan klappte es beim Spiel gegen den Ball wieder deutlich besser. "In der zweiten Halbzeit haben wir die Positionen besser gehalten und hatten dadurch mehr Ballsicherheit. Das war viel besser, da konnten wir sofort Druck machen."
Was dagegen trotz deutlicher Feldüberlegenheit und 68 Prozent Ballbesitz kaum noch funktionierte, war das Herausspielen klarer Abschlussaktionen am oder im Strafraum.

Die Mannschaft spielte 673 Pässe, die Passquote war mit 88 Prozent stark - und trotzdem hatte Deutschland bis auf zwei Fernschüsse bis Schweinsteigers später Entscheidung kaum noch eine zwingende Chance.

Löw führte dies auf die Tatsache zurück, dass seine Mannschaft im letzten Drittel zu verspielt agierte. "Nach vorne hin hatten wir ein paar gute Angriffe. Wir müssen aber noch mehr zu Abschlüssen kommen, zielstrebiger agieren. Wir haben es auch ein paar Mal verpasst, den letzten Pass zu spielen." Und es blieben einige Spieler erstaunlich blass: Mesut Özil, Thomas Müller oder Mario Götze.

Hummels bald zurück

Das wiederum heißt im Umkehrschluss, dass die Ukraine es trotz einer durchwachsenen Leistung und einiger eher mittelmäßiger Leistungen wichtiger Spieler geschlagen wurde.

Und dass es deutlich Luft nach oben gibt für die wichtigen Spiele, die da kommen werden. Die deutsche Mannschaft muss und wird sich steigern.

Dann mit einem Schweinsteiger, der etwas mehr als nur drei Minuten auf dem Platz steht. "Ich bin noch nicht bereit für 90 oder 120 Minuten, aber 45 Minuten kann ich spielen." Und vielleicht sogar schon im nächsten Spiel gegen die Polen mit Mats Hummels.

Der hat seine Wadenverletzung überstanden, trainierte am Spieltag nochmals individuell und meldet sich fit für kommenden Donnerstag. "Wir haben es richtig gut hingekriegt, wir haben keinen einzigen Tag vertrödelt", sagte Hummels.

Vielleicht kann der sich demnächst auch bei Teamarzt Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt bedanken, wie es Schweinsteiger tat. Und wer weiß: Vielleicht meldet sich Hummels auch gleich mit einem Tor zurück.

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