Wie überragend diese Leverkusener Saison ist und wie weit sich der neue Deutsche Meister dabei von der Konkurrenz entfernt hat, zeigt vielleicht am besten diese Statistik: Nur ein einziges Mal überhaupt war der FC Bayern München am fünftletzten Spieltag einer Saison nicht mehr in der Lage, doch noch Meister zu werden.

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Das war in der Saison 1991/92, als am Ende der VfB Stuttgart triumphierte und die Liga nach der Wiedervereinigung von 18 auf 20 Mannschaften aufgestockt wurde. Damals liefen die Bayern nach einer regelrechten Katastrophen-Saison auf Platz zehn ein. Chancenloser, den Titel in der Endphase einer Spielzeit doch noch zu erringen, waren sie weder davor noch seitdem danach.

Bayer 04 Leverkusen hat seine Kontrahenten zu den viel zitierten Statisten degradiert, so viel kann man jetzt schon sagen. 16 Punkte beträgt die Differenz auf die Bayern und Stuttgart, 23 sind es auf Leipzig und Dortmund. Seit 43 Pflichtspielen ist die Mannschaft ungeschlagen, damit ist Juventus‘ alter Rekord nun schon egalisiert. Die Chance auf das Double ist sehr groß und sogar das Triple aus Meisterschaft, DFB-Pokal- und Uefa-Pokalsieg sehr realistisch.

Es ist eine Saison der Superlative, die Bayer Leverkusen spielt, der vorzeitige Gewinn der Meisterschaft dabei nur ein Zwischenstopp: Auf dem Weg zu noch mehr Titeln. Und auf dem Weg dahin, auch in den kommenden Jahren eine ernsthafte Gefahr für die anderen etablierten Vereine der Liga zu sein, allen voran natürlich den Bayern.

Der stille Macher im Hintergrund

Xabi Alonso ist der Macher in Rampenlicht, seit der Amtsübernahme des Spaniers vor rund anderthalb Jahren hat sich Leverkusen vom Vorletzten der Tabelle zum deutschen Meister aufgeschwungen, in der Zeit saisonübergreifend mehr Punkte gesammelt als die Über-Bayern.

Ohne Alonso kein überlegenes Spielsystem, kein Angriffsfußball der neuen Generation, keine Entwicklung hochtalentierter Spieler hin zu internationalen Spitzenkräften oder sogar zur Weltklasse. Und ohne Simon Rolfes kein Xabi Alonso.

Im Hintergrund, ohne großes Aufsehen oder Getöse, hat ein Novize im Amt des sportlichen Leiters Bayer Leverkusen gebastelt und aus der Versenkung zu einer europäischen Spitzenmannschaft mitgeformt.

Am Sonntag hat sich einer von Rolfes‘ Vorgängern noch einmal fast überall blicken lassen. Rainer Calmund war Gast in der "Sport1"-Sendung "Doppelpass", später dann natürlich zur Meisterkrönung auch im Stadion und dann wieder bei den Kollegen von "DAZN" zu sehen und zu hören. Calmund hat den Beruf des Managers oder sportlichen Leiters in Leverkusen ja quasi erfunden, später dann den Staffelstab an Rudi Völler weitergegeben.

Beide aber, Calmund und Völler, war der größte aller Erfolge in mehreren Jahrzehnten auf der Kommandobrücke nicht beschieden. Simon Rolfes hat nach seiner Ernennung zum Geschäftsführer Sport nun keine zwei Jahre dafür gebraucht.

Früh die Karriere nach der Karriere geplant

Es mag in der Bundesliga bestimmt schillerndere Figuren geben als Rolfes, der schon als Aktiver eher der Typ stiller Aufräumer und Arbeiter war denn ein besonders spektakulärer Spieler. Aber nur wenige haben sich schon zu aktiven Zeiten schon so sehr mit dem befasst, was sie später einmal hauptberuflich machen würden.

Rolfes war nach seinem Karriereende als Experte für das "ZDF" aktiv und als einer von zwei Geschäftsführern der Firma "Goal Control", dazu Student der "Executive Master for International Players" bei der Uefa.

"Damals gab es noch nicht so viele Sportmanagement-Studiengänge wie heute", sagte Rolfes vor knapp zwei Jahren in einem Interview mit "t-online". "Deshalb habe ich mich in meinen 20ern viel mit Unternehmen beschäftigt. Wirtschaft allgemein hat mich interessiert - Börse, Aktien, Finanzen usw. Außerdem habe ich Biografien von CEOs gelesen - beispielsweise von Coca-Cola-CEO Roberto Goizueta."

Ein guter Transfer nach dem anderen

Nun reicht diese Wissbegierde allein nicht, um ein Multi-Millionen-Euro-Unternehmen wie Bayer 04 zu leiten. Weshalb sich Rolfes für seine Eingewöhnungszeit auch gleich mehrere Lehrjahre bei Rudi Völler gönnte. Um dann, erst im Sommer 2022 und damit sieben Jahre nach seinem Ende als Aktiver, das Ruder in Leverkusen zu übernehmen - und alsbald in eine erste veritable Krise zu stürzen.

Nur drei Monaten später musste Rolfes seinen Trainer Gerardo Seoane entlassen. Die Werkself war in der Bundesliga auf Rang 17 abgerutscht, nach einem 0:4 gegen die Bayern. Mit dem als Trainer auf diesem Niveau ebenfalls unerfahrenen Xabi Alonso als Nachfolger ging Rolfes durchaus ein gewisses Risiko ein. Die erste große Personalentscheidung seiner noch jungen Managerlaufbahn hätte im Nachhinein aber besser nicht sein können.

Unterstützung erhielt Rolfes dabei von Fernando Carro, ebenfalls Geschäftsführer der Bayer 04 Fußball GmbH und als gebürtiger Spanier einer, dessen Anraten bei der Alonso-Verpflichtung ein entscheidender Faktor gewesen sein soll.

So wie das auch im letzten - dem entscheidenden - Transfersommer unter anderem bei Alejandro Grimaldo der Fall war. Der Spanier flog offenbar unter dem Radar der absoluten Top-Klubs, war für Bayer Leverkusen aber eine perfekte Wahl. Ebenso wie Jonas Hofmann, Victor Boniface, Nathan Tella oder Königstransfer Granit Xhaka.

Weniger als 70 Millionen Euro gaben Rolfes und Bayer im Sommer für das Quintett aus. Mittlerweile dürften sich die Marktwerte der Spieler mehr als verdoppelt haben.

Vor allen Dingen aber passten sie wie der auf den letzten Drücker aus München ausgeliehene Josip Stanisic perfekt in das Leverkusener Konstrukt.

Rolfes‘ Meisterstück mit Alonso

Die große Kunst im Scouting besteht schließlich nicht darin, die offensichtlichen Maßnahmen zu ergreifen, sondern genug Fantasie zu besitzen, in weniger bekannten Spielern zum einen genug Entwicklungspotenzial und eine Soforthilfe zu erkennen. Dann stellen sie sportliche Erfolge und auch Wiederverkaufspotenziale fast von allein ein.

Alles das ist Simon Rolfes in seiner zweiten Saison als Verantwortlicher gelungen. Deshalb ist der immer noch erst 42-Jährige jetzt schon zumindest an einem Etappenziel angelangt. Rolfes geht als der Baumeister der ersten Leverkusener Meisterschaft in die Geschichte ein.

Da wird es ihn auch kaum stören, dass das grelle Rampenlicht weiter den anderen gehört: Seinen Spielern und seinem Trainer. Xabi Alonso noch über diese Saison hinaus halten zu können und damit auch den einen oder anderen Spieler, der an einem anderen Standort noch mehr Geld verdienen könnte: Das ist Rolfes‘ zweites großes Meisterstück.

Denn nur so ist eine gewisse Nachhaltigkeit möglich. Und der Angriff auf den FC Bayern vielleicht noch zweites Mal möglich.

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