• Die Formel 1 macht zum vorletzten Rennen des Jahres Station in Brasilien.
  • Dabei kommen jedes Jahr Erinnerungen an 2008 hoch, an eines der verrücktesten WM-Finals.
  • Neben Felipe Massa ein großer Verlierer damals: Der Deutsche Timo Glock, der durch seine Rolle während des Rennendes massiv angefeindet wurde

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Läppische 39 Sekunden. Was ist das schon? Ein Wimpernschlag innerhalb einer langen Karriere in der Formel 1. Ein paar Momente, eine halbe Runde, ein Mini-Ausschnitt, mehr nicht. Schnell wieder vergessen, abgehakt. Doch die 39 Sekunden am 2. November 2008 waren anders. Intensiv, nachhaltig, prägend für alle, die involviert waren.

Es gibt Aufnahmen von damals, die zeigen, wie emotional dieser Sport sein kann, wie brutal, wie mitreißend und schmerzhaft, wie ungerecht, wie schön. In diesen 39 Sekunden steckt all das drin: Freude, Trauer, Glück, Verbitterung. Eine Achterbahn der Gefühle.

Kollektiver Freudentaumel

Als Felipe Massa über die Ziellinie fuhr, brach auf dem Autódromo José Carlos Pace das Chaos aus, die brasilianischen Fans rasteten aus, lagen sich in den Armen, der Jubel war ohrenbetäubend. In der Ferrari-Box ertrank Massas Familie im kollektiven Freudentaumel. Parallel die Verzweiflung in der McLaren-Garage. Lewis Hamilton musste Fünfter werden, lag wenige hundert Meter vor dem Ziel auf Rang sechs. Alles aus, verloren, so schien es.

Doch da tauchte der Toyota von Timo Glock auf, der Deutsche wehrte sich nicht, weil er es nicht konnte, er ließ sich von Hamilton überholen, der in der letzten Kurve des letzten Rennens diesen fünften Platz übernahm, der alles bedeutete. Massa erfuhr es auf der Auslaufrunde, dass es doch nicht gereicht hatte. In dem Video sieht man, wie der Jubel in der Ferrari-Garage schlagartig verstummte, in Sekundenbruchteilen kam die Fassungslosigkeit. Trauer. Tränen. Wut.

Kollektive Fassungslosigkeit

Ein Mechaniker konnte nicht an sich halten, zertrümmerte mit der Faust ein rotes Leuchtschild. Papa Massa stand die Ungläubigkeit ins Gesicht geschrieben. Mehr als 100.000 Fans an der Strecke blieb der Jubel im Hals stecken. Gleichzeitig hüpfte Hamiltons damalige Freundin Nicole Scherzinger unaufhörlich auf und ab, kreischte und jubelte. Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie nah beisammen Triumph und Tränen liegen können.

Massa hat das lange hinter sich gelassen, er kann daher darüber lachen, dass ihm der Vergleich mit dem Fußball-Bundesligisten FC Schalke 04 vorgelegt wird. Der Klub war 2001 immerhin für vier Minuten und 38 Sekunden deutscher Meister, ehe mal wieder die Bayern zuschlugen. Ein Umstand, an dem Schalke heute noch zu knabbern hat.

Der frühere Ferrari-Star Massa findet hingegen, dass er damals nichts verloren hat. "Ich habe das Rennen gewonnen und mein Bestes gegeben. Wir haben bis zum Ende gekämpft, ich muss mir nichts vorwerfen. Wenn ich in der letzten Kurve überholt worden wäre, wäre es eine andere Sache", sagte er der Welt. Er habe diesen vermeintlichen Titel nie gefeiert, sagte Massa, keine dieser 39 Sekunden: "Mir war immer bewusst, dass es eng ist und noch viel passieren kann. Aber natürlich denkt man in so einem Moment: ,Wie kann das passieren?!‘"

Bilder der Familie schmerzen

Ihn schmerzten vor allem die Bilder seiner verzweifelten Familie. "Es war das emotionalste Rennen meiner Karriere, mit all diesen Fans, die mich zum Titel brüllen wollten. Immerhin konnte ich vor meinem Publikum gewinnen", sagte Massa. Er betont, er habe den Titel nicht in Brasilien verloren, sondern vorher.

Es gab neben Massa einen weiteren Verlierer: den Deutschen Glock. Er hat tatsächlich lange gebraucht, um die Erlebnisse hinter sich zu lassen. Den Shitstorm. Die Wut. Den ganzen Frust. Ja, auch den geballten Hass, der sich auf ihn fokussierte. Den Formel-1-Fans an ihm ausließen. Dass er mit seinen Slicks im Regen von Interlagos gegen Hamilton mit Intermediates völlig chancenlos war – das interessierte schon damals keinen Massa-Fan oder Verschwörungstheoretiker.

Glock "feiert" dieses Jubiläum inzwischen mit einem Augenzwinkern, Jahr für Jahr geht es auf Twitter rund. Der Ex-DTM-Pilot wird noch heute für diese für Massa so tragische letzte Runde angegangen. Ob nun am "Jahrestag" selbst oder eben wie jetzt, wenn der Brasilien-GP vor der Tür steht.

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Mit Massa ausgesprochen

Mit Massa hat er sich im vergangenen Jahr ausgesprochen, Glock gab bei Sky zu, er habe "ein wenig Schiss gehabt, Felipe auf die WM-Entscheidung anzusprechen". Laut Massa wäre das gar nicht nötig gewesen. "Die Leute müssen verstehen, dass Timo nichts falsch gemacht hat. Und ich hegte auch nie einen Groll gegen Timo", so Massa. Trotzdem: Wie Glock mal verriet, sind es bis zu 150 Tweets, die zu dem Thema die Runde machen. Doch so lustig, wie es sich heute anhört, war es damals nicht.

Das war es schon im Rennen nicht, denn Glock rutschte im einsetzenden Regen über die Strecke. Die Entscheidung war strategisch richtig, weil Glock am Ende zwei Plätze gut machte. Doch dass er die Titelentscheidung mit beeinflusst hatte, wusste er da noch nicht. Bis plötzlich alles auf ihn einprasselte. "Mir wurden all diese Geschichten erzählt, dass ich Hamilton geholfen hätte, dass das bereits vor dem Rennen so geplant gewesen sei, oder wieviel Geld ich von Mercedes bekommen hätte, um ihn vorbeizulassen. Die Situation an diesem Sonntag war so verrückt. Ich war erst einmal völlig baff, weil ich nicht verstehen konnte, dass Leute mir Vorwürfe machten", sagte Glock unserer Redaktion.

Glock: "Ich war wirklich erstaunt, dass plötzlich jeder mit dem Finger auf dich zeigt"

Glock überlegte, ob vielleicht er einen Fehler gemacht hatte. Er erlebte, wie schnell eine Geschichte konstruiert werden kann, wie schnell Stimmungen und Emotionen dafür sorgen, dass der Blick vernebelt, das große Ganze nicht mehr gesehen und stattdessen jemand zu Unrecht beschuldigt wird. "Ich war wirklich erstaunt, dass solche Dinge im Sport passieren können und plötzlich jeder mit dem Finger auf dich zeigt", so Glock.

Er hatte mit dem Taktik-Kniff, nicht zum Reifenwechsel zu kommen, überhaupt erst ermöglicht, dass Massa 39 Sekunden lang Weltmeister war. Das sahen die Leute in ihrer Wut aber nicht. "Mein ganzes Toyota-Team hatte noch an der Strecke einen Shitstorm abbekommen. Sie wurden von Gästen und brasilianischen Fans aus dem Paddock Club bespuckt und mussten sogar ihre Teamkleidung wechseln. Am Ende liefen sie sogar mit Renault-Shirts rum", so Glock.

Mit der Polizei zum Flughafen

Er selbst wurde am Montag nach dem Rennen mit einer Polizei-Eskorte zum Flughafen und bis ins Flugzeug gebracht. Im Flieger die persönliche "Krönung": Das ganze Mercedes-Team im Feiermodus, direkt neben Glock saß der damalige Mercedes-Motorsportchef Norbert Haug. Medial unbemerkt glücklicherweise. Ein Foto der Beiden hätte für noch mehr Zündstoff gesorgt. Dabei gab es davon schon genug.

Denn Zuhause ging es weiter. Facebook. Der nächste Shitstorm. Selbst deutsche Fans haben ihm üble Sachen an den Kopf geworfen. Erst nach ein paar Wochen hatte sich alles wieder ein bisschen beruhigt. Bei Glock ging es nicht so schnell. "Es war nicht leicht zu verstehen, warum das alles passiert ist und Menschen so reagiert haben. Insgesamt war es eine absolute irre Situation. Es hat lang gedauert, bis ich das hinter mir lassen konnte." Was gut ist, denn auch in diesem Jahr geht der Shitstorm weiter. Wenn auch längst nicht mehr so wild wie vor 14 Jahren. Vieles davon ist inzwischen auch einfach nur noch ein Running Gag.

Was bei dieser Geschichte auch überrascht: Der sportliche Schlag war nicht der härteste Moment in Massas Karriere, "bei Weitem nicht", wie er erklärt. "Die härtesten Situationen hatten immer mit Geld zu tun", sagte Massa: "Ich musste mein Auto verkaufen, um mein Leben als Nachwuchsrennfahrer zu finanzieren. Ich hatte in meiner Anfangszeit in der Formel Renault nur die finanzielle Voraussetzung, sechs Rennen zu bestreiten. Ich wusste, da muss ich gewinnen, sonst bin ich raus. Das waren viel schwierigere Momente als Interlagos 2008." Schließlich dauerten sie auch deutlich länger als 39 Sekunden.

Verwendete Quellen:

  • Welt: Felipe Massa: "Der Name Schumacher ist eine Last für Mick"
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