Recip Tayyip Erdogan baut die Türkei in eine Diktatur um, an deren Spitze er selbst stehen soll. Er lässt reihenweise politische Gegner und Journalisten wegsperren - während er die Bundesrepublik mit Nazi-Deutschland vergleicht. Wie geht man mit so einen Staatsmann um? Muss die EU nicht endlich auf den Tisch hauen? Nein, sagt Renate Sommer, Türkei-Expertin der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament. Sie ist sicher: Damit würde Europa Erdogan in die Karten spielen.

Ein Interview

Frau Sommer, Angela Merkel setzt im Konflikt mit der Türkei auf Deeskalation. Müsste sie Erdogan nicht viel deutlicher in die Schranken weisen?

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Renate Sommer: "Bestimmt hätte Angela Merkel oft Lust, gegenüber Recip Tayyip Erdogan andere Worte zu wählen. Aber sie tut gut daran, sich nicht provozieren zu lassen. Erdogan will ja gerade, dass die EU ihm gegenüber aggressiv wird. Denn dann hätte er einen Grund, die Brücken nach Europa abzubrechen und der EU die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben."

Erdogan will den Bruch mit der EU?

Sommer: "Ja. Solange die Türkei Beitrittskandidat ist, hat Europa noch Einfluss auf die türkische Innenpolitik. Erdogan will aber nicht, dass wir ihm hineinreden, Menschenrechte anmahnen und ähnliches. Außerdem lenkt er mit seinem Gehabe davon ab, dass er sein Land in den wirtschaftlichen Ruin führt. Der Tourismus ist um fast 50 Prozent eingebrochen, weil sich die Urlauber nicht mehr hin trauen. Unternehmen liegen am Boden, weil ihre Inhaber enteignet oder inhaftiert wurden, weil sie die Regierung kritisiert haben oder der Gülen-Bewegung nahe stehen sollen."

Sie sprechen von Einfluss. Dass die Türkei in eine Diktatur steuert, scheint die EU aber nicht verhindern zu können.

Sommer: "Zugegeben: Unser Einfluss ist gesunken, aber es gibt ihn noch. Die EU - wichtigster Handelspartner der Türkei - verhandelt mit ihr derzeit zum Beispiel über die Erweiterung der Zollunion. Nicht, weil die Türkei so toll ist, sondern damit wir im Gespräch bleiben. Wir dürfen das Land nicht völlig abdriften lassen. Dafür ist es sicherheitspolitisch zu wichtig."

Sie spielen auf den Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei an. Hat sich Europa damit also erpressbar gemacht?

Sommer: "Ich glaube, kein Politiker hat diesen Pakt gerne geschlossen. Aber er war nötig. Die Türkei hat die EU unter Druck gesetzt, indem sie die Grenzen geöffnet hat. Ein Stück weit ist Europa daran selbst schuld: Hätte Europa dem UNHCR (Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen; die Red.) vor vorne herein mehr Geld zur Versorgung der Flüchtlinge zur Verfügung gestellt, wäre es vielleicht nicht so weit gekommen. Aber heute, da die EU-Außengrenzen gut gesichert und Europa für die Zuwanderung gerüstet ist, taugt das Abkommen nicht mehr für Erpressungen seitens der Türkei."

Wenn die EU nichts zu befürchten hat: Könnte sie dann nicht die Beitrittsverhandlungen abbrechen, als Signal?

Sommer: "Das europäische Parlament hat gefordert, die Beitrittsverhandlungen einzufrieren, wohlwissend, dass die Mitgliedsstaaten da nicht mitziehen werden. Das Parlament wollte damit ein Zeichen setzen. Die Verhandlungen offiziell abzubrechen, ist aus meiner Sicht aber nicht nötig. Die Verhandlungen kommen ohnehin seit Jahren nicht voran. Und wie gesagt: Erdogan liegt schon lange nichts mehr an einer EU-Mitgliedschaft."

Und wie wäre es mit einem Einreisestopp als Druckmittel? Schließlich hat Erdogan großes Interesse daran, in Deutschland Wahlkampf zu machen.

Sommer: "Ich halte auch einen Einreisestopp nicht für nötig. Natürlich ist es unglücklich, wenn die türkische Regierung auf deutschem Boden für ein Referendum wirbt, das in eine Diktatur führt. Aber das muss unsere Demokratie verkraften. Versammlungs- und Meinungsfreiheit gehören schließlich zu unseren Grundwerten. Es ist doch gut, wenn die Menschen in Deutschland über den Wert der Demokratie diskutieren und ihre türkischstämmigen Nachbarn und Freunde fragen: 'Wie kannst du Erdogan zujubeln, während du selbst alle Freiheiten der Demokratie genießt?'"

Dr. Renate Sommer ist seit 1999 Mitglied des Europäischen Parlaments für das Ruhrgebiet und ständige Türkei-Berichterstatterin der EVP-Fraktion (Christdemokraten).
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