• In einer emotionalen Rede vor dem US-Kongress hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Westen erneut aufgefordert, eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten.
  • Die Nato hat einen solchen Schritt bereits ausgeschlossen, sie befürchtet dadurch eine weitere Eskalation.
  • Der Militärexperte Gustav Gressel glaubt nicht, dass eine Flugverbotszone kommt – allerdings noch aus einem anderen Grund.

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Die Bilder, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei seiner Rede vor US-Kongressabgeordneten in Erinnerung rief, treffen in den USA einen Nerv: Der japanische Luftangriff auf die US-Marinebasis Pearl Harbor 1941 und die Terroranschläge vom 11. September 2001.

"Unschuldige Menschen wurden aus der Luft angegriffen, niemand erwartete es, niemand konnte es stoppen", sagte Selenskyj. "Unser Land erlebt das Gleiche jeden Tag". Solchen "Terror" habe Europa seit 80 Jahren nicht mehr erlebt. Sein eindringlicher Appell: Die USA sollen eine Flugverbotszone einrichten oder mindestens Verteidigungssysteme zum Schutz vor den russischen Angriffen liefern und mit allen Firmen Russland verlassen.

Könnte die Nato ein Flugverbot durchsetzen?

Bislang hat das Weiße Haus zumindest den Schritt einer Flugverbotszone kategorisch ausgeschlossen. Die direkt an Präsident Joe Biden gerichteten Worte "Der Anführer der Welt zu sein, bedeutet, der Anführer des Friedens zu sein", zeigten dennoch Wirkung: Wenige Stunden nach Selenskyjs Rede brachte Biden weitere Militärhilfen auf den Weg, darunter Drohnen und Defensivsysteme.

Dass noch eine Flugverbotszone kommt, hält der Militärexperte Gustav Gressel für äußerst unwahrscheinlich. "Die Debatte über die Flugverbotszone wird von Gegnern und Befürwortern auf unrealistischem Boden geführt", sagt er. im Gespräch mit unserer Redaktion Die Nato habe an der Ostflanke zurzeit nicht die entsprechenden Kräfte, um eine Flugverbotszone überhaupt durchzusetzen. In der politischen Diskussion werde vergessen, die Vorschläge militärisch zu unterfüttern und militärisch zu durchdenken.

"Die Nato arbeitet sich gerade von einer symbolischen Militärpräsenz zu einem verteidigungsfähigen Dispositiv. Eine Flugverbotszone kann sie aber noch lange nicht durchsetzen", ist er sich sicher. Das aber wäre notwendig, damit der Schritt kein zahnloser Tiger bleibt. Die Nato müsste also sicherstellen, dass russische Kampfflugzeuge oder Drohnen tatsächlich nicht in den ukrainischen Luftraum eindringen.

Dafür ist die Überwachung des Luftverkehrs nötig und im Zweifelsfall ein Abschuss der Flugobjekte. Man müsste die eigene Luftverteidigung und die Landstreitkräfte stärken. "Man bräuchte viel mehr alliierte Luftstreitkräfte in Rumänien und Polen und mehr Aufklärungsmittel. Davon sind wir weit entfernt", sagt Gressel. Flugverbotszonen gab es in der Vergangenheit beispielsweise 2011 in Libyen und 1991 im Irak.

Nato befürchtet weitere Eskalation

"Über einen offiziellen Beschluss der Nato wird keine Flugverbotszone kommen. Das käme einem direkten Eingriff der Nato in den Krieg gleich", sagt Gressel. Die Nato-Staaten hatten eine Flugverbotszone bereits Anfang März in einer Sondersitzung ausgeschlossen. "Wir haben als Nato-Verbündete die Verantwortung, eine Eskalation dieses Krieges über die Ukraine hinaus zu verhindern, denn das wäre noch gefährlicher, verheerender und würde noch mehr menschliches Leid verursachen", sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Auch der russische Präsident Putin hat die Nato scharf vor einem solchen Schritt gewarnt. "Jede Bewegung in diese Richtung wird von uns als Beteiligung des jeweiligen Landes an dem bewaffneten Konflikt betrachtet", so Putin.

Gressel sagt: "So schnell, wie Gegner einer Flugverbotszone einen Dritten Weltkrieg kommen sehen, läuft die Eskalation nicht ab. Ein Atomkrieg ist für Russland nicht gratis." Dennoch dürfe man nicht vergessen, dass Russland im Falle einer Flugverbotszone auch konventionelle Mittel hätte, um dagegen vorzugehen. "Russland könnte wiederum die eingreifenden Flugzeuge angreifen – und das nicht nur von Flugabwehrabstellungen in der Ukraine, sondern von Systemen, die in Russland oder auf der Krim stationiert sind", erinnert Gressel.

Dann stelle sich für die Nato aber die Frage: "Was machen wir mit denen? Lassen wir unsere Piloten von der Nato abschießen, geben wir klein bei oder greifen wir Stellungen in Russland direkt an?" In einem solchen Fall spricht auch Gressel von einer erheblichen Eskalation: "Dann schlittern wir geradewegs in den Bereich, wo die nukleare Eskalation nicht mehr auszuschließen ist."

Indirekte Errichtung einer Flugverbotszone möglich?

Der Westen habe aktuell allerdings noch nicht alle Mittel ausgereizt. "Wir dürfen nicht zuerst über die Zone sprechen, sondern müssen erst Mittel stellen, um überhaupt in der Lage zu sein, so einen Schritt durchsetzen zu können", meint der Experte. Nur so könne man diplomatisch Druck aufbauen und Millimeter für Millimeter schauen, wozu man Russland bewegen könne.

"Druck auf die russische Seite muss man immer militärisch unterlegen. Ansonsten bringt er nichts", so Gressel. Dafür müsse die Nato ihre Präsenz an der Ostflanke stärken. "Dann erst kann die Nato argumentieren: Der Druck in unserer Öffentlichkeit steigt aufgrund der Bombardierung von Zivilisten, wenn auf russischer Seite nichts geschieht, sehen wir uns gezwungen, weitere Schritte zu unternehmen", erklärt der Experte. In der dann gegebenen politischen Situation könne man flexibel reagieren.

Gressel sieht noch weiteren Spielraum: "Man könnte die Ukraine selbst auch stärker mit Luftabwehrwaffen bewaffnen und ausrüsten. Die Ukrainer sind dann stärker in der Lage, die Russen aus dem eigenen Luftraum heraus zu drängen und selbst eine Gefahr für russische Flugzeuge darzustellen." Dann hätte man indirekt eine Flugverbotszone erreicht. "Nicht offiziell, aber irgendwann werden die Verluste für die russischen Luftkräfte zu groß", so Gressel.

Über den Experten: Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik.

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