Vor fünf Jahren riegelte Ungarn die Grenze zu Serbien ab. Der Konflikt zwischen Viktor Orban und der EU erreichte damit einen vorläufigen Höhepunkt. Einblick in ein schwieriges Verhältnis.

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Vier Meter hoch und 175 Kilometer lang soll der Grenzzaun zu Serbien werden, dessen Bau Ungarns Regierung am 17. Juni 2015 anordnet. Man sei entschlossen, das Land und die Menschen "vor dem Einwanderungsdruck zu schützen", sagt der ungarische Außenminister damals. Die Europäische Union reagiert schockiert. "Wir haben erst jüngst die Mauern in Europa abgerissen, wir sollten sie nicht wieder aufbauen", sagt eine Sprecherin der EU-Kommission.

Wirklich überrascht dürfte aber niemand gewesen sein: Die Abriegelung der Grenze ist der vorläufige Höhepunkt eines Konflikts zwischen dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban und Westeuropa. Dabei hatte man Orban dort ursprünglich als Verbündeten und demokratischen Hoffnungsträger gesehen. Wie kam es zu dem Zerwürfnis? Was treibt den umstrittenen Premier an?

Viktor Orban: Sehnsucht nach nationalen Gefühlen

Als Orban 1988 den Bund Junger Demokraten (Fidesz) gründet, gilt die Partei als liberal. Der junge Jurist und überzeugte Antikommunist wird in den 90er Jahren stellvertretender Vorsitzender der Liberalen Internationale. Doch es kommt zum Bruch mit den freiheitlichen Parteien Westeuropas.

"In Westeuropa ist man mehrheitlich der Ansicht, dass es nicht die Aufgabe der liberalen Elite ist, nationale Belange zu fördern. In Ostmitteleuropa sieht man das anders", erklärt Zsolt K. Lengyel, Direktor des Ungarischen Instituts der Universität Regensburg, im Gespräch mit unserer Redaktion. In der sozialistischen Ära sei jegliche Regung nationaler Gefühle verpönt gewesen, streckenweise sogar politisch verfolgt worden. Für viele Menschen im ehemaligen Ostblock bot das Ende der Sowjet-Herrschaft die Gelegenheit, nationalen Symbolen und Gefühlen wieder Raum zu verschaffen.

"Orban sieht, dass einem großen Teil der Bevölkerung ethnisch-kulturelle Themen sehr wichtig sind", sagt Lengyel. "Er macht das, was die Mehrheit im Volk will – und die Ergebnisse der Parlamentswahlen bestätigen ihn in diesem Kurs."

Orban ist ein Machtmensch

Jürgen Dieringer ist Politikwissenschaftler an der Freien Universität Brüssel und Honorarprofessor an der Andrassyi-Universität in Budapest. Er bezeichnet den ungarischen Ministerpräsidenten als klaren Machtmenschen – und erklärt so auch seinen Rechtsschwenk ab Ende der 90er Jahre: "Die ungarische Gesellschaft neigt politisch gesehen eher nach rechts. Ein starkes Nationalgefühl und der Wunsch, sich nach außen abzuschotten, sind dort weit verbreitet. Orban hat das gut erkannt."

1998 wird er das erste Mal Ministerpräsident – und 2002 überraschend wieder abgewählt. Seine sozialistischen Gegner sind damals finanziell besser ausgestattet. Für Orban sei das ein Knackpunkt gewesen, sagt Dieringer. "Er hat gemerkt: Wir können uns auf Dauer nur an der Macht halten, wenn wir genügend Finanzquellen haben. Er hat dann begonnen, die Wirtschaft mit Fidesz-Leuten zu oligarchisieren. Wer heutzutage etwas werden will in Ungarn, muss sich dem Fidesz anschließen."

Korruption ist nur einer von vielen Vorwürfen europäischer Partner an Orban. Das politische System hat er immer stärker zu seinen Gunsten umgebaut. Der Premier selbst spricht von der "illiberalen" Demokratie in Abgrenzung von der liberalen Elite, die in den ungarischen Großstädten weiter mächtig ist. Es finden zwar freie Wahlen statt, doch die Medien hat Orban 2010 unter die Aufsicht einer regierungsnahen Behörde gestellt. Sogar von einem "Staatsstreich zur Abschaffung der Demokratie" ist in einem Kommentar der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" die Rede, als der Ministerpräsident sich im März vom Parlament die Vollmacht geben lässt, in der Coronakrise ohne die Volksvertretung per Dekret zu regieren.

Wunsch nach Unabhängigkeit

Maßgeblich zugespitzt wird der Konflikt mit Brüssel 2015, als eine Mehrheit der EU-Staaten gegen den Willen von Ungarn, Polen und Tschechien die Verteilung von Flüchtlingen regelt. Obwohl Ungarn zur Aufnahme von nur rund 1200 Menschen aufgefordert wird, stößt der Schritt nicht nur bei Orban auf Widerspruch. Ungarn hat wegen seiner Lage an einer EU-Außengrenze genau wie etwa Spanien und Italien schon früh hohe Flüchtlingszahlen verzeichnet, war mit seinem Wunsch nach Unterstützung aber auf taube Ohren gestoßen. "Deutschland hat von anderen Staaten eine Solidarität eingefordert, die das Land selbst zuvor nicht gezeigt hatte", sagt Jürgen Dieringer.

Experte Zsolt Lengyel erklärt den Konflikt mit Brüssel auch mit den Erfahrungen, die Ungarn im "Zwangsintegrationssystem" der Sowjetunion gemacht hat. In seiner langen Geschichte sei das Land nur selten wirklich unabhängig gewesen. "Der Wunsch, keine Anweisungen mehr zu erhalten, ist in der ungarischen Politik und Gesellschaft deshalb stark ausgeprägt."

Kein ernsthafter Herausforderer

Lengyel beklagt eine Dämonisierung Orbans – gerade durch deutsche Medien und Politiker. "Wahr ist: Orban will wie wohl die meisten Politiker an der Macht bleiben", sagt er. Wahr sei aber auch: "Es gibt derzeit keinen ernsthaften und sympathischen Herausforderer, der ihm wirklich Konkurrenz machen könnte."

Den Einwand, die Medienlandschaft mache es der Opposition schwer, sich Gehör zu verschaffen, will er nicht gelten lassen: "Mit dem Mediengesetz hat Orban bezweckt, ein gewisses Gleichgewicht in der Medienlandschaft herzustellen – aber nicht die Presse komplett auf seine Seite zu bringen oder sie gar ihrer Freiheit zu berauben." Im Land gebe es immer noch eine "quicklebendige Anti-Orban-Propaganda".

Das sehen andere Beobachter anders: "Die Medien sind faktisch in der Hand der Fidesz", meint Politikwissenschaftler Jürgen Dieringer. Die Organisation Reporter ohne Grenzen ordnet Ungarn auf ihrer "Rangliste der Pressefreiheit" nur noch auf Platz 89 von 180 Staaten ein. "Die öffentlich-rechtlichen Rundfunksender wurden in der staatlichen Medienholding MTVA zentralisiert, zu der auch Ungarns einzige Nachrichtenagentur MTI gehört. Die regionale Presse ist seit dem Sommer 2017 vollständig im Besitz Orban-freundlicher Unternehmer", schreibt die Organisation auf ihrer Homepage. Wichtige regierungskritische Zeitungen wie Népszabadság und Magyar Nemzet seien eingestellt worden, kritische Berichte fänden nur noch über Onlinemedien eine geringe Verbreitung.

Zeichen der Annäherung

Lange haben sich die Lager in ihren Positionen eingegraben, doch inzwischen gibt es Zeichen, dass West- und Osteuropäer vorsichtig aufeinander zugehen.

Die EU wird Ungarn und andere Staaten wohl nicht mehr gegen ihren Willen zur Aufnahme von Flüchtlingen verpflichten. Die ungarische Regierung hat wiederum die Lager geschlossen, in denen Flüchtlinge in Grenznähe hinter Stacheldraht hausen mussten. Auch den Vorwurf, sein Land in eine Diktatur zu führen, will Orban sich nicht machen lassen: Die umstrittenen Vollmachten zur Bekämpfung der Coronakrise will er zum Ende der Woche ans Parlament zurückgeben.

Über die Experten:
Dr. Jürgen Dieringer ist Adjunct Professor am Vesalius College der Freien Universität Brüssel und Honorarprofessor der deutschsprachigen Andrassyi Universität Budapest. Er beschäftigt sich unter anderem mit dem politischen System Ungarns und der Europäischen Integration.
Dr. Zsolt K. Lengyel ist seit 2015 geschäftsführender Direktor des Hungaricum – Ungarisches Institut der Universität Regensburg. Der Historiker und Politikwissenschaftler beschäftigt sich unter anderem mit deutsch-ungarisch-rumänischen Beziehungen und dem Ungarn-Bild in Deutschland.

Verwendete Quellen:

  • Jürgen Dieringer, Vesalius College der Freien Universität Brüssel
  • Zsolt K. Lengyel, Hungaricum – Ungarisches Institut der Universität Regensburg
  • Deutsche Welle (dw.com): Ungarn baut Zaun an Grenze zu Serbien
  • FAZ.net: Notstand in Ungarn – Mit Viktor Orban in die Diktatur
  • Reporter ohne Grenzen: Ungarn

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