Eine Enquête-Kommission des Bundestags hat das Scheitern des Westens in Afghanistan schonungslos beschrieben. Jetzt werden die Mitglieder Schlussfolgerungen für zukünftige Auslandseinsätze ziehen. Klar ist: Deutschland und andere Staaten müssen im globalen Süden anders auftreten als vor 20 Jahren.

Eine Analyse
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Am 14. Januar 2002 patrouillierten Bundeswehr-Soldaten zum ersten Mal mit ihren afghanischen Kollegen durch Kabul. Offenbar mit einer Mischung aus Anspannung und Optimismus. Die radikalislamischen Taliban-Machthaber waren vertrieben, die Menschen auf der Straße begrüßten die ausländischen Soldaten mit Jubel und Händeschütteln. Das Land habe jetzt eine Chance, sagte ein Oberstleutnant an diesem Tag in einem Tagesschau-Beitrag: "Wir werden mit Sicherheit was bewirken können."

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Fast 20 Jahre später endete der größte, komplizierteste und längste Auslandseinsatz der Bundeswehr im Desaster. Die Taliban übernahmen wieder die Macht und machten damit vieles zunichte, was die internationale Koalition in der Tat bewirkt und aufgebaut hatte. Ausländische Einsatzkräfte verließen Afghanistan überhastet und erniedrigt.

Was ist damals falsch gelaufen? Und welche Lehren sind für das ausländische Engagement in der Zukunft zu ziehen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich seit anderthalb Jahren eine Enquête-Kommission des Bundestags, bestehend aus 12 Abgeordneten sowie 12 Sachverständigen.

Schon jetzt ist klar: Der Afghanistan-Einsatz war eine Zäsur für das internationale Engagement Deutschlands.

Zu große Ziele, zu wenig Wissen, zu unkonkrete Ziele

Zur Erinnerung: Der Grund für den Einsatz waren die Terroranschläge vom 11. September 2001. Deutschland beteiligte sich daraufhin an einer breiten Koalition der USA, um islamistischen Terror in mehreren Teilen der Welt zurückzudrängen. In Afghanistan bekämpfte die Koalition zunächst erfolgreich die herrschenden Taliban.

Danach machten es sich zwei internationale Militärmissionen (ISAF und Resolute Support) zur Aufgabe, Sicherheit zu gewährleisten und den Staatsaufbau zu begleiten. Wie gesagt: Langfristig ohne Erfolg.

Vor Kurzem hat die Enquête-Kommission des Bundestags einen Zwischenbericht vorgelegt. Er konzentriert sich auf die Suche nach Ursachen für das Scheitern. Und die Mitglieder sparen darin nicht mit Kritik.

Kurz gefasst lautet der Befund: In den beteiligten Bundesministerien gab es zu wenig Wissen über das Land – und zu wenig Bereitschaft zur ressortübergreifenden Zusammenarbeit. Der Einsatz war zu schlecht vorbereitet, die Ziele zu hochgesteckt, die Mittel dafür zu bescheiden, die Pläne und Strategien für die Zukunft zu unkonkret. Bedenken wurden schnell zur Seite gewischt. Die Bundesrepublik wollte ihren Ruf als verlässlicher Bündnispartner nicht riskieren.

"Es wurde nie kritisch hinterfragt, ob die Erwartungen an uns selbst, aber auch die Erwartungen der Menschen in Afghanistan eigentlich zu erfüllen sind", sagt Ellinor Zeino im Gespräch mit unserer Redaktion. Sie ist Mitglied der Enquête-Kommission und leitet das Regionalprogramm Südwestasien der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Taschkent (Usbekistan).

Zunehmend selbstbewusste Partner

Das englische Zauberwort lautete damals "state-building": Der Westen wollte den afghanischen Staat nach eigenen Vorstellungen aufbauen. Afghanistan hat aber auch wie kaum ein anderes Beispiel deutlich gemacht, wo die Grenzen dieses Versuchs liegen. Das Konzept "state-building" wird in dieser Form wohl der Vergangenheit angehören.

"Immer weniger Länder und Gesellschaften sind bereit, sich von uns erklären zu lassen, wie sie zu leben haben."

Ellinor Zeino, Konrad-Adenauer-Stiftung

Denn im Land herrschten sehr unterschiedliche Wertvorstellungen und Lebenswelten, sagt Ellinor Zeino. "Es ist in der Vergangenheit nicht gelungen, sie friedlich miteinander zu vereinbaren. Stattdessen haben verschiedene Seiten versucht, ihre eigenen Werte einseitig durchzusetzen: Das hat der Westen versucht, und das versuchen die Taliban."

Für Zeino lautet die Lehre aus Afghanistan daher: "Wir müssen wegkommen von der Vorstellung: Viel hilft viel." Dem Land müsse man mit "Realismus und Respekt" begegnen. "Immer weniger Länder und Gesellschaften sind bereit, sich von uns erklären zu lassen, wie sie zu leben haben."

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Michael Müller sieht das ähnlich. Der frühere Berliner Bürgermeister leitet jetzt als SPD-Bundestagsabgeordneter die Enquête-Kommission. Deutschland müsse seine Rolle und seine Interessen klar formulieren, sagt Müller im Gespräch mit unserer Redaktion. "Aber wir sehen auch ein zunehmend selbstbewussteres Auftreten der Regierungen im globalen Süden, die ebenfalls klare Anforderungen formulieren. Sie erwarten langfristige Investitionen und Beziehungen auf Augenhöhe, zum Teil aber auch die Lieferung von Rüstungsgütern."

Sind Auslandseinsätze zum Scheitern verurteilt?

In ihrem Zwischenbericht hat die Enquête-Kommission die Defizite der Vergangenheit benannt. Jetzt werden die Mitglieder Schlussfolgerungen und Lehren für die Zukunft zusammentragen.

Aus Sicht von Müller gehören vor allem eine bessere Zusammenarbeit der Ministerien und eine bessere Vorbereitung dazu. "Beim Afghanistan-Einsatz wurde die Bundeswehr in ein Land geschickt, ohne dass man sich zuvor mit den gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründen auseinandergesetzt hatte. Das war nach dem 11. September in der Kürze der Zeit auch gar nicht möglich."

Doch auch der zweite große Auslandseinsatz nach Afghanistan endete vorzeitig: Nach den Problemen beim UN-Einsatz im westafrikanischen Mali hat der Bundestag die Soldatinnen und Soldaten schneller abgezogen. Aber waren in Mali oder in Niger nicht ähnliche Probleme zu beobachten wie in Afghanistan? Sind Auslandseinsätze der Bundeswehr allgemein zum Scheitern verurteilt?

Das glaubt Müller nicht. Deutschland sei auf der Welt künftig eher mehr als weniger gefordert. "Es kommt ja auch vor, dass andere Staaten uns um Hilfe bitten. Wir haben außerdem schlichtweg ein Interesse an Stabilität in anderen Teilen der Welt. Nirgendwo mehr zu unterstützen, kann keine Option sein." Umso wichtiger sei es, aus dem Scheitern in Afghanistan für die Zukunft zu lernen.

Die Weltlage hat sich ohnehin verändert, sie ist mit der Situation vor 20 Jahren kaum noch zu vergleichen. Neue Technologien verändern Kriege und Konflikte, Russland und China suchen noch stärker als früher globalen Einfluss, und die USA hinterfragen mehr und mehr ihre frühere Rolle als "Weltpolizist". Auslandseinsätze von Armeen könnte das noch komplizierter machen.

Plädoyer für vorsichtige Kontakte

Bleibt noch die Frage nach dem Umgang mit der Taliban-Regierung in Afghanistan. Sind Kontakte zu einem radikalislamischen Regime, das Mädchen und Frauen die Bildung verweigert, für eine deutsche Bundesregierung ausgeschlossen? Oder muss Berlin die Gesprächskanäle mit Kabul offenhalten, schon im Sinne der Menschen im Land? Das Auswärtige Amt richtet sich zurzeit eher nach der ersten Option. Es unterstützt mit humanitärer Hilfe in den Nachbarländern. Die Botschaft in Kabul ist bis auf Weiteres geschlossen.

Michael Müller und Ellinor Zeino plädieren eher für den anderen Weg. "Wir sollten keinen Botschafter entsenden, aber wir brauchen eine niedrigschwellige Form der Präsenz, um auch den Menschen vor Ort besser helfen zu können", sagt Müller. Politikwissenschaftlerin Ellinor Zeino glaubt ebenfalls: Mit Abwarten und roten Linien helfe man den Menschen nicht weiter. "Wir müssen jetzt auch mit der Regierung Kontakt halten, um zu wissen, wie die Situation ist und wie man unterstützen kann."

Das größte Problem in Afghanistan ist aus ihrer Sicht die Perspektivlosigkeit der Menschen. Es fehlt an Geld, Jobs, Bildung. Doch dass Mädchen und Frauen faktisch nicht in Schulen und Universitäten gehen dürfen, macht Zeino zufolge inzwischen auch Taliban-Familien zu schaffen. "Wandel kann nur von innen kommen, Druck von außen verschärft die Situation nur."

Über die Gesprächspartner

  • Ellinor Zeino hat Politik, Jura und Wirtschaft in Passau und Kairo studiert und promovierte an der Universität Hamburg. Sie war in der internationalen Zusammenarbeit unter anderem in Marokko, Ägypten und Saudi-Arabien tätig und leitet jetzt das Regionalprogramm Südwestasien der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Sitz in Taschkent, Usbekistan.
  • Michael Müller hat unter anderem als selbstständiger Buchdrucker gearbeitet, bevor er zunächst in der Berliner Landespolitik Karriere machte. Ende 2014 wurde er zum Regierenden Bürgermeister der Hauptstadt gewählt. 2021 wechselte er in den Bundestag. Dort ist er Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und leitet die Enquête-Kommission "Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands".

Verwendete Quellen

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