Gehen die Lockerungen in der Coronakrise zu schnell? Kanzleramtsminister Braun und Ministerpräsident Weil haben bei Maybrit Illner Mühe, ihren Kurs zu rechtfertigen.

Eine Kritik
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Wie sich die Zeiten ändern: Keine zwei Monate ist es her, dass Politiker immer drastischere Beschränkungen des öffentlichen Lebens verkünden mussten, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Inzwischen müssen sie sich dafür rechtfertigen, dass sie ziemlich hastig eine Beschränkung nach der anderen wieder zurücknehmen. Die Runde bei Maybrit Illner macht da am Donnerstagabend keine Ausnahme.

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Wer sind die Gäste bei "Maybrit Illner"?

Stephan Weil: "Ich habe nicht den Ehrgeiz, deutscher Lockerungsmeister zu werden", behauptet Niedersachsens Ministerpräsident. Trotzdem wirbt der an diesem Abend erstaunlich lockere Sozialdemokrat eindringlich für den Stufenplan seines Landes. Man müsse wieder an die Normalität "herankrabbeln", sagt Weil: Ansonsten würden anstelle der Infiziertenzahl die Schäden für Wirtschaft und Gesellschaft exponentiell steigen.

Helge Braun: Der Kanzleramtsminister soll die Politik der Bundesregierung erklären – aber von Amts wegen ist er auch das Sprachrohr der Bundeskanzlerin. Die soll in der Lockerungskonferenz mit den Ministerpräsidenten am Mittwoch genervt gesagt haben, sie sei "kurz davor aufzugeben". Alles Quatsch, sagt Braun sinngemäß: "Die Kanzlerin ist sehr, sehr gerne im Amt."

Rafaela von Bredow: Die Journalistin leitet beim "Spiegel" das Ressort Wissenschaft und Technik und sieht die Lockerungen des Lockdowns kritisch: "Ich verstehe nicht, warum man jetzt gleich eine zweite Welle draufpacken muss, bevor wir sehen, was die erste Welle angerichtet hat."

Alena Buyx: Die Professorin für Medizinethik ist Mitglied im Deutschen Ethikrat und findet die Beschlüsse "zulässig und verantwortbar". "Wir werden ein gewisses Restrisiko akzeptieren müssen", so Buyx. Jede weitere Lockdown-Woche hätte dagegen massive Folgen mit sich gebracht.

Ranga Yogehswar: Der Physiker und Moderator glaubt, dass sich Deutschland in einer "tückischen Phase" befindet: Weil die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus erfolgreich waren, wiegen sich die Menschen in falscher Sicherheit. "Die Wahrnehmung des Risikos wird im Moment vollkommen verdreht."

Was ist das Rededuell des Abends?

Helge Braun macht vielleicht einen entscheidenden Fehler: Er verplappert sich, als es um die neue "Obergrenze" geht. Wenn in einem Stadt- oder Landkreis künftig 50 Neuinfektionen in den zurückliegenden sieben Tagen auftreten, soll das öffentliche Leben dort wieder so heruntergefahren wie im April.

Darauf hatten sich die Kanzlerin und die Länderchefs am Mittwoch geeinigt. Braun verrät, dass er eigentlich eine andere Zahl vorgeschlagen hatte: eine niedrigere Grenze von 35 Neuinfektionen. Damit konnte er sich aber nicht durchsetzen.

Das bringt Wissenschaftsjournalistin Rafaela von Bredow auf den Plan. Nicht nur sie stellt sich die Frage, wie die Zahl von 50 eigentlich zustande kam. Nun zeige sich, dass ein politischer Deal dahinterstecke und nicht etwa wissenschaftliche Argumente. "Das ist fast frivol, so eine Zahl zu erfinden", ärgert sie sich.

Der Kanzleramtsminister versucht, die Sache zu erklären: Schon wenn die 35 erreicht sind, müssten sich die Behörden Gedanken machen, was zu tun ist. Von Bredow überzeugt das nicht – auch weil sie nicht viel davon hält, nur noch auf einzelne Kreise zu schauen. Im Sommer würden die Menschen wieder durch Deutschland reisen, sagt die Journalistin. "Dann wird sich dieses Virus still und heimlich weiterverbreiten im ganzen Land."

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Was ist der Moment des Abends?

Als Wissenschaftler hat Ranga Yogeshwar in Talkshows einen Vorteil: Er strahlt so viel Seriosität aus, dass seine Äußerungen scheinbar besonderes Gewicht haben. Dabei teilt er recht diplomatisch gegen die Politik aus: Dass es in Virus-Hotspots demnächst zu regionalen Lockdowns kommt, glaubt er nicht. Gestresste Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern hätten kein Interesse daran, viel zu testen, glaubt Yogeshwar. "Niemand ist bereit, den Ast abzusägen, auf dem er sitzt".

"Da kann man auf Deutschland ein bisschen vertrauen", erwidert Kanzleramtsminister Braun – wirkt dabei aber auch nur ein bisschen entschlossen. Den aufgeregten bis aufbrausenden Fernsehton seines Amtsvorgängers Peter Altmaier will er sich offenbar nicht angewöhnen.

Brauns etwas einschläfernde Art ist aber auch nur begrenzt talkshowtauglich: Es gehe darum, "jeden Ausbruch liebevoll mit viel Energie zu betrachten", sagt er. Das klingt nicht gerade nach Pandemiebekämpfung.

Was ist das Ergebnis bei "Maybrit Illner"?

Die Bundeskanzlerin habe die Verantwortung für die Corona-Bekämpfung an die Ministerpräsidenten abgegeben, lautete eine Analyse der Bund-Länder-Konferenz vom Mittwoch. Ministerpräsident Weil gibt die Verantwortung bei Maybrit Illner gleich weiter: an die Bevölkerung. "Ob wir Erfolg haben oder ob wir keinen Erfolg haben, wird am Ende nicht die Politik entscheiden", sagt der Niedersachse. Vielmehr werde diese Frage vom Verhalten der Bürgerinnen und Bürger abhängen. Das ist eine durchaus elegante Art, die Verantwortung weiterzuschieben.

Sind die Lockerungen nun leichtsinnig oder bitter nötig? Darauf kann derzeit niemand eine Antwort geben, weil die Corona-Zeit eben auch eine Zeit der Ungewissheit ist. Ranga Yogeshwar beschreibt es so: "Wir sind im Moment eine Gesellschaft, die sich durch einen dunklen Raum tastet."

Ein ungutes Gefühl in all der Freude über die kleinen Stücke Normalität bleibt jedenfalls. Vielleicht werde es wieder einen neuen Lockdown gebe, weil man jetzt nicht geduldig genug war, warnt Spiegel-Journalistin von Bredow: "Erfahrungen mit großen Pandemien haben gezeigt, dass die eigentlich immer wieder hochpoppen."

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