Die Jungen dürfen ran bei "Maybrit Illner" und ihre Sicht auf die Misere von SPD und Union erzählen. Es wird eine schmerzhafte Analyse – ohne Aussicht auf schnelle Besserung.

Eine Kritik

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Die Zerstörung der Volksparteien, Klappe, die vierte: Wie es der Sendeplatz nun mal so will, durfte "Maybrit Illner" am Donnerstagabend erst als letzte der vier Talkshow-Platzhirsche der Öffentlich-Rechtlichen über die Europawahl und die desaströse Lage von SPD und Union diskutieren.

Immerhin mit einem interessanten Ansatz: Sie lud zu einer Art politischem Stammtisch im Mehr-Generationen-Haus, bei dem Junioren und Senioren sich mal gegenseitig erklären durften, was die Generation falsch macht, die gerade das Sagen hat. Ganz ohne Generalsekretär, Fraktionschef oder Spitzenkandidatin, die sich mit antrainierten Worthülsen aus der Verantwortung winden. Was für eine Wohltat.

Was war das Thema?

75 Minuten Zeit nahm sich die Gastgeberin in ihrem "Illner Spezial", um über den "Wandel des politischen Klimas" zu reden, wie sie es selbst ausdrückte.

Ähnlich wie bei der Klimakrise schlägt sich in der deutschen Politik ein Großtrend immer konkreter nieder: Der Niedergang der Volksparteien zeichnet sich seit Jahren ab, nun verlieren SPD und Union nicht nur Wahlen und Wähler, sondern auch massiv an Relevanz und Handlungsfähigkeit.

Nur 44,7 Prozent holten die beiden Parteien gemeinsam am Sonntag bei den Europawahlen, fast neun Prozentpunkte weniger als bei der ohnehin schon ernüchternden Bundestagswahl 2017. "Das GroKo-Desaster – falsche Themen, falsche Antworten?" fragte Maybrit Illner deshalb ihre Runde.

Wer waren die Gäste?

Die politische Großwetterlage ließ sich Illner von Kollegen erklären.

  • Die "Welt"-Politikchefin Claudia Kade griff vor allem die SPD an, weil sie die Fehler der letzten acht Jahre wiederhole: "Sie beschäftigt sich nur mit sich selbst." Wer die Fraktion anführe, sei für die Menschen aber egal, die Partei müsse endlich Inhalte präsentieren. Wobei, so ganz egal ist es doch nicht: Verliert Andrea Nahles die Abstimmung, so Kade, drohen sogar Neuwahlen.
  • Annegret Kramp-Karrenbauer, ergänzt Hans-Ulrich Jörges vom "Stern", sei dann nicht als CDU-Spitzenkandidatin gesetzt, weil sie zuletzt "erstaunlich außer Form" geraten sei, besonders in ihrer Reaktion auf das "Die Zerstörung der CDU"-Video des Youtubers Rezo.

Relativ schnell verabschiedet Illner die Journalisten wieder auf ihre Plätze ins Publikum und gesellt sich zu den Hauptdarstellern des Abends, zu den vier Vertretern der Generation, die am Sonntag zu fast einem Drittel grün gewählt hat.

  • CDU-Mitglied Diana Kinnert (28) hat ihr Kreuz wahrscheinlich nicht bei der Konkurrenz gemacht, lässt aber kein gutes Haar an der eigenen Partei und dem Koalitionspartner: "Die junge Generation findet nicht statt in den großen Parteien, das Durchschnittsmitglied ist 60 Jahre alt. Wir haben als Volksparteien versagt. Es war eine Frage der Zeit, bis sich enttarnt, dass sich die junge Generation nicht abgeholt fühlt."
  • Die jungen Leute hätten "keinen Bock mehr" auf die Politik des kleinsten Nenners in der Groko, sagt Johanna Uekermann (31), stellvertretende SPD-Chefin in Bayern. Deswegen habe das Rezo-Video auch "einen Nerv getroffen".
  • Zu den Unterstützern von Rezo gehört Florian Diedrich aka LeFloid (31), bekannt geworden durch sein Interview mit Angela Merkel im Sommer 2015. Er verteidigte seinen Kollegen gegen den Vorwurf der "Meinungsmache" – und die Meinungsfreiheit der Youtuber gegen die Einlassungen von Annegret Kramp-Karrenbauer: "Ich sage: Es wird hier gar nichts reguliert, und zwar niemals, denn sonst sind wir auf einem Weg, der mir überhaupt nicht gefällt."
  • Die Klima-Aktivistin Carla Reemtsma (21) führt den Erfolg des millionenfach abgerufenen Clips nicht nur auf den Inhalt zurück. "Die Stimmung war schon da, es war Timing." Die CDU habe es genau falsch gemacht. "Die verfassen ein PDF, elf Seiten, damit erreichen die vielleicht ihre Mitglieder, die im Durchschnitt 60 Jahre alt sind, aber nicht die, die das Video gesehen haben."
  • Noch ein bisschen älter ist Ruprecht Polenz (CDU), der nach einer halben Stunde gemeinsam mit der SPD-Grande-Dame Gesine Schwan zu den Jungspunden stieß.

Polenz empfahl seinen Parteifreunden, mindestens eine Stunde pro Tag im Internet unterwegs zu sein, auf der Suche nach Stimmungen und Themen.

Schwan wollte "dagegen anstänkern" – statt eines Kommunikationsproblems machte sie eher eine Diskrepanz aus zwischen den Visionen der Jungen und den Zwängen der praktischen Politik.

Was war der Moment des Abends?

AKK und Co. sprechen einfach die Sprache der Jungen nicht – auf diese einfache Erklärung verkürzt sich in diesen Tagen oft die Analyse der Nachwuchsprobleme von SPD und Union. Stimmt, kratzt aber nur an der Oberfläche.

Offensichtlich fühlen sich viele junge Menschen nicht ernst genommen: Kramp-Karrenbauer tue ernsthaft so, als würden Millionen Jungwähler nur wegen eines Videos ihre Wahlentscheidung treffen, "als ob die das nicht reflektieren können", empört sich Johanna Uekermann.

"Fridays for Future"-Mitorganisatorin Clara Reemtsma fügt noch ein paar Beispiele hinzu: Demonstranten werden als Schulschwänzer abgekanzelt, oder gleich als gekaufte Bots, wie bei den "Artikel 13"-Protesten gegen die EU-Urheberrechtsnovelle. "Das ist ein Kommunikationsproblem."

Aber es komme noch etwas hinzu: "Die Parteien greifen die Themen nicht auf, die junge Menschen, und nicht nur die, beschäftigen." Klima sei das wichtigste Thema dieser Zeit, aber das Klimakabinett rede nur über Gebäudedämmung, nicht über große, systematische Fragen. "Wie können wir eine Wirtschaftsdoktrin in Frage stellen - dieses ewige Wachstum, ist das nötig, zeitgemäß, vereinbar? " Diese jungen Leute meinen es offensichtlich verdammt ernst.

Was war das Rededuell des Abends?

Dieser Runde ohne Alpha-Tiere fehlten lautstarke Attacken, versteckte Spitzen und überhaupt jeglicher Wille, Gespräche als Duell zu verstehen. Wobei "fehlen" an dieser Stelle der völlig falsche Begriff ist. Es ging an diesem Abend um die Sache, um den Austausch von Argumenten, und das war auch gut so.

Wobei, so ganz ohne Boxhandschuhe lief es doch nicht ab, eingedroschen wurde vor allem auf Annegret Kramp-Karrenbauer, die in Abwesenheit als Punching Ball herhalten musste.

Parteifreundin Diana Kinnert bescheinigte ihr "eine Nervosität, die ich nicht gewohnt bin". SPD-Nachwuchsfrau Uekermann bezeichnete ihre "Regulierungs"-Ideen kurz und knapp als "Quatsch". Und "Stern"-Kolumnist Jörges spekulierte schon über einen Unions-Kanzlerkandidaten namens Armin Laschet.

Wie hat sich Maybrit Illner geschlagen?

Die braven Gäste machten es Maybrit Illner sehr einfach an diesem Abend, sie antworteten tatsächlich auf die Fragen, sie ließen sich unterbrechen, und sogar ein bisschen anfrotzeln.

"Die SPD braucht gar kein Zerstörungs-Video, das erledigt sie schon selbst", sagte die Gastgeberin spitz lächelnd zu Johanna Uekermann, der nur Zerknirschung blieb: "Ja, wir geben gerade kein gutes Bild ab."

Ein paar Minuten später noch ein bisschen Salz in die Wunde: "Die SPD fällt in manchen Regionen unter 'Sonstige' - wie gewöhnt man sich daran?" – "Gar nicht. Es fühlt sich auch echt scheiße an."

Bei aller berechtigten Kritik an SPD und Union: Die Lust am Untergang der Volksparteien wurde teils doch zu ausgiebig zelebriert.

Andrea Nahles und Annegret Kramp-Karrenbauer im Einspieler als Trümmerfrauen, untermalt von der Tränental-Hymne "It's Over" von Roy Orbison, mit Häme bedacht ("Kraut und Rüben", heißt es da über Kramp-Karrenbauers Rede) – solche Polemik überlässt man normalerweise den Gästen.

Was ist das Ergebnis?

Die beließen es meist bei den Fakten, die schmerzen ohnehin mehr als jeder Spott.

Diana Kinnert erinnerte daran, dass nur zwei Prozent der Deutschen in Parteien organisiert sind – und dort "Parallelgesellschaften" existieren, die gar nicht die Lebenswirklichkeit der Gesellschaft abbilden.

Clara Reemtsma machte immer wieder darauf aufmerksam, wie wenig Zeit für einen Richtungswechsel in der Klimapolitik bleibt. Wenn noch fünf Jahre verstreichen, müsse der Wandel noch radikaler ausfallen als ohnehin schon. "Es reicht nicht mehr, über ein bisschen S-Bahn fahren und Radwege bauen zu reden."

Zu viel mehr sieht sich die Groko aber offensichtlich nicht in der Lage, stattdessen steckt sie viel Energie und Zeit in innerparteiliche Kämpfe.

"Ich bin super genervt von der Personaldiskussion", sagt SPD-Frau Johanna Uekermann. Eine Antwort auf die dringenden Fragen sei das nicht. "Auf den Transparenten bei den 'Fridays for Future' steht ja nicht, dass die Volksparteien ihre Vorsitzenden auswechseln sollen."

Wegweisend werden sicher die anstehenden Landtagswahlen – alle drei im Osten, der bei der Europawahl ganz anders aussah als der Westen: blau statt grün.

Eine Spätfolge der misslungenen Einheit, erklärte Hans-Ulrich Jörges. "Der Westen hat Geld rübergeschaufelt, aber sich, Entschuldigung, einen Scheißdreck gekümmert, was da passiert."

Ein historisches Problem, das mit dem Kohleausstieg eine Aktualisierung erfährt: Ein Kohlerevier wie die Lausitz, wo die AfD stärkste Partei ist, fürchtet den wirtschaftlichen Abstieg, die Menschen fühlten sich erneut wie Verlierer, erklärt Gesine Schwan. "Man muss dort eine positive Identifikation schaffen. Nur klimakonform."

Eine Mammut-Aufgabe. Und wer glaubt schon daran, dass ausgerechnet die schwächelnden Volksparteien sie stemmen können?

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