Selbstbewusst ist Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei seinem Besuch in Berlin aufgetreten. Bundeskanzler Olaf Scholz ersparte ihm aber auch keine Kritik: Er verfolge die israelische Justizreform "mit großer Sorge". Eindrücke von einem ungewöhnlichen Staatsbesuch.

Eine Reportage
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Die Blicke der beiden Staatsmänner sind nach unten gerichtet: auf das Gleis zwischen den Bahnsteigen, aber auch in den Abgrund, in den es führte. Vom Bahnhof Grunewald wurden 1941 und 1942 rund 10.000 deutsche Juden in Richtung Osten deportiert. Für die meisten von ihnen war es eine Fahrt in den Tod. Heute ist das Gleis 17 ein Mahnmal. Gravuren auf rostigen Stahlplatten listen die einzelnen Züge auf. Ein Protokoll der industriellen Vernichtung von Menschen.

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Benjamin Netanjahu: "Deutschland hat sich verändert"

Am frühen Donnerstagmittag steht Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu an diesem Ort und schlägt den Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart. "Unsere Welt hat sich verändert, Deutschland hat sich verändert, in Israel ist ein jüdischer Staat entstanden", sagt er.

Die Lehre aus dem Holocaust aber sei noch heute aktuell: "Wenn man dem Bösen gegenübersteht, muss man diesem Bösen entschlossen entgegentreten." Deswegen brauche Israel auch heute noch die Möglichkeiten, um sich zu verteidigen "gegen die verrückten Ideologien, die unsere Welt zerstören wollen". Gemeint ist damit der Iran, dem Israel vorwirft, atomare Waffen entwickeln zu wollen.

Holocaust-Überlebende gehören zu den Ehrengästen der kurzen Gedenkveranstaltung am Gleis 17. Netanjahu ist zum ersten Besuch seiner aktuellen Amtszeit nach Berlin gekommen. Neben ihm steht Bundeskanzler Olaf Scholz, der dem Amtskollegen aus Israel Solidarität versichert. "Wir werden die Verantwortung, die wir aus der Geschichte haben, nie vergessen und ihr immer gerecht werden", sagt er.

Ein Besuch in Berlin in aufgeregter Zeit

Dieser Staatsbesuch ist kein politisches Alltagsgeschäft – in vielerlei Hinsicht. Ein israelischer Regierungschef erfordert stets die höchste Sicherheitsstufe. Mehrere Tausend Polizistinnen und Polizisten sind im Einsatz. Zudem wurde die Visite offenbar sehr kurzfristig angekündigt – und sie fällt in eine politisch aufgeregte Zeit.

Begleitet wird der Besuch von mehreren Protesten – mehrere Tausend Berliner Israelis gehen gegen Netanjahu auf die Straße. Im vergangenen Dezember hat sich der 73-Jährige zum Kopf einer Regierung wählen lassen, an der auch rechtsextreme Politiker beteiligt sind. Jetzt treibt er eine umstrittene Justizreform voran. Sie soll dem Parlament das Recht einräumen, mit einfacher Mehrheit Entscheidungen des Höchsten Gerichts aufzuheben. In Israel demonstrieren seit Wochen Zehntausende gegen diese Pläne.

Auch in Deutschland ist der Protest laut – und die Zweifel an Netanjahus Besuch. Sollte eine deutsche Regierung den israelischen Ministerpräsidenten in dieser angespannten Stimmung empfangen und hofieren? Nein, sagte am Morgen im Deutschlandfunk Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank: Der deutsche Kanzler verleihe Netanjahu damit einen Ritterschlag, statt sich hinter die Demonstrierenden zu stellen.

Die Bundesregierung hält sich mit Kritik an innenpolitischen Entwicklungen in anderen Ländern in der Regel zurück. Das gilt umso mehr für Israel. Bei der Justizreform ist das aber anders. Justizminister Buschmann, Außenministerin Baerbock und Bundespräsident Steinmeier haben bereits ihre Sorgen um die Unabhängigkeit der Justiz in Israel ausgedrückt. Auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat Netanjahu vor einer Spaltung der Gesellschaft gewarnt. Die spannendste Frage in Berlin lautet am Donnerstag: Wird auch Scholz das Thema öffentlich ansprechen?

Nach dem Besuch beim Mahnmal sitzen Netanjahu und Scholz im Kanzleramt zusammen – es gibt offenbar reichlich Gesprächsbedarf. Die Pressekonferenz beginnt mit einer Stunde Verspätung.

Olaf Scholz: "Israel muss eine liberale Demokratie bleiben"

"Ich verfolge diese Debatte sehr aufmerksam und – das will ich nicht verhehlen – mit großer Sorge", sagt Scholz. Er erinnert daran, dass der israelische Staatspräsident Isaac Herzog inzwischen einen Kompromissvorschlag vorgelegt hat. Damit ließe sich die drohende Spaltung der Gesellschaft verhindern, glaubt der Kanzler. "Wir würden uns als Freunde Israels wünschen, dass auch über diesen Vorschlag das letzte Wort noch nicht gesprochen ist." Zu einer Demokratie gehöre nicht nur die Mehrheitsherrschaft, sondern auch der Schutz von Minderheiten, sagt Scholz. "Unser Wunsch ist, dass unser Wertepartner Israel eine liberale Demokratie bleibt."

Das sind für diplomatische Verhältnisse recht deutliche Worte. Benjamin Netanjahu verfolgt sie äußerlich ungerührt – und antwortet freundlich im Ton, aber ähnlich bestimmt wie Scholz. "Israel war und ist eine liberale Demokratie und wird es bleiben", sagt er. Aus seiner Sicht dient die Reform lediglich dazu, eine Übermacht der Justiz zurückzudrehen und das richtige Gleichgewicht der Gewalten herzustellen. Ansonsten will er betonen: Die Gespräche mit Scholz seien "extrem produktiv" gewesen.

Es sind insgesamt selbstbewusste Auftritte der beiden Staatsmänner. Scholz will auf Nachfrage von seinen Zweifeln an der Justizreform nicht abweichen. Und Netanjahu präsentiert sich als Regierungschef eines mächtigen Landes: Vor fast 80 Jahren habe das jüdische Volk noch schutzlos dagestanden. Jetzt aber liefere Israel Luftverteidigungssysteme - auch an Deutschland. Damit der frühere Feind und heutige Freund seinen Himmel schützen kann.

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