Joe Biden ist Präsidentschaftskandidat geworden. Er steht für ein Amerika, wie es vor Donald Trump war. Ist das eine gute Nachricht für die Demokraten?

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In einer Zeit vor Corona - als noch der Klimawandel, die Boeing-Krise und der Vorwahlkampf in den USA die Menschen beschäftigten – hatten nicht mehr viele Joe Biden die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten zugetraut.

Eine Vorwahl nach der anderen ging für den ehemaligen Vizepräsidenten verloren, sein Showman-Lächeln wirkte energielos, er brach seine Sätze bei wichtigen Reden in der Mitte ab.

Die US-Medien beschäftigten sich bereits mit der Aufarbeitung dieses desaströsen Wahlkampfs, wichtige Spender sortierten ihre Finanzen neu – kurzum: Das Bild, das Biden in der Öffentlichkeit abgab, war kläglich. Aber Biden abzuschreiben, dafür war es offenbar zu früh.

Joe Biden ist Präsidentschaftskandidat der Demokraten

Die Vorwahlen in South Carolina brachten den Umschwung, noch bevor die Coronakrise die USA erfasst hatte, beim Super Tuesday baute er seinen Vorsprung weiter aus. Ende März dann war Biden faktisch Präsidentschaftskandidat der Demokraten: Nach dem Ausstieg von Bernie Sanders ist er der letzte verbleibende Kandidat auf dem Ticket der Demokraten.

Für Biden ist es die Krönung einer langen politischen Karriere. Aber ist sie auch eine gute Nachricht für die Demokraten?

Joe Biden steht für das Amerika, wie es einmal war, bevor Donald Trump ins Weiße Haus einzog, bevor Amerika die NATO als Verhandlungsmasse missbrauchte.

In einem Land, in dem Teile der Bevölkerung eine Sehnsucht nach der Obama-Ära haben, muss es nicht von Nachteil sein, mit der Vergangenheit Wahlkampf zu machen.

Das Stehauf-Männchen aus Delaware

Geboren in Scranton (Pennsylvania) und aufgewachsen in Claymont (Delaware), träumt Joe Biden schon lange davon, Präsident der USA zu werden. Zweimal hat er Wahlkampf gemacht, zweimal scheiterte er.

1988, bei seinem ersten Versuch, hatte er Teile seiner Reden beim britischen Labour-Politiker Neil Kinnock abgeschrieben und 20 Jahre später stand er abgeschlagen im Schatten von Hillary Clinton und Barack Obama. Kurz vor dem dritten Versuch starb sein Sohn Beau an einem Gehirntumor. 2016 war das. Statt ihm zog Donald Trump ins Weiße Haus ein.

Doch in der an alten, weißen Männern nicht armen amerikanischen Politik, ist Joe Biden die Konstante. Dass er zäh ist, hat er oft bewiesen – persönlich wie politisch.

Joe Biden: Kontakt zum "echten Amerika"

Biden ist 30 Jahre alt, als seine Frau Neilia, unterwegs mit den drei Kindern, mit einem Lastwagen kollidiert. Sie und die 13 Monate alte Tochter sterben, die Söhne Beau und Hunter kommen mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus. Biden hat oft erzählt, dass ihn nach dem Tod von Frau und Tochter Selbstmordgedanken quälten und er daran dachte, seinen Senatssitz aufzugeben. Er entschied sich dagegen.

Noch heute rührt viele Amerikaner eine Aufnahme aus dem Winter 1973, die Biden als frischgewählten Senatoren bei seinem Amtseid zeigt - am Krankenbett seiner Söhne.

Um abends bei ihnen zu sein, steigt er täglich in die Bahn zwischen Wilmington in Delaware und Washington und vertritt die Leiden von Pendlern im Kongress. Wegen der Stunden im Amtrak, der Zugverbindung zwischen beiden Städten, habe er nie den Kontakt "zum echten Amerika" verloren, erzählt er heute.

Für solche Geschichten lieben ihn die Amerikaner. Sie zeichnen das Bild eines Mannes, dem traditionelle Werte wie Verlässlichkeit, Familie und Zusammenhalt wichtig sind. Glaubwürdigkeit ist auch im Wahljahr 2020 eine harte Währung, mit der sich Wählerstimmen kaufen lassen.

Joe Biden steht für reaktionären Umgang mit Frauen

Biden ist ein Mann mit "Ecken und Kanten", er räumt Schwächen ein und lässt Nähe zu. Doch körperliche Nähe wird für ihn zunehmend zum Problem.

Eine frühere Mitarbeiterin in Bidens Büro im US-Senat bezichtigte ihn eines sexuellen Übergriffs im Jahr 1993. Die heute 56-jährige Tara Reade gab an, der ehemalige Senator habe sie damals gegen ihren Willen im Intimbereich berührt.

Dazu finden sich im Internet massenweise Videos, in denen Biden Frauen zu nahekommt: Mal umarmt er sie, mal küsst er sie auf den Kopf, mal tätschelt er ihre Wangen.

In den Medien klagten im Frühjahr mehrere Frauen, sie seien von Biden belästigt worden. Und immer mal wieder bringt Biden gegenüber Frauen den einen flotten Spruch zu viel, so, als sei die #MeToo-Debatte an ihm vorbei gegangen. In dieser Hinsicht ist es kein Vorteil, ein Mann aus der Vergangenheit zu sein.

Joe Biden ist kein Sexist, er brüstet sich nicht mit Straftaten, wie Donald Trump in dem mittlerweile berühmt gewordenen "Grab them by the pussy"-Mitschnitt aus dem Jahr 2005. Und er räumte sein Fehlverhalten in einem persönlichen Video ein.

Doch manche Funktionäre sträuben sich, einen Kandidaten aufzustellen, der für seinen reaktionären Umgang mit Frauen angreifbar ist. Die Möglichkeit, Donald Trump als Sexisten darzustellen, wäre in diesem Fall nämlich verschenkt.

Eine umstrittene politische Historie

Den jüngeren Amerikanern ist der erfahrene Politiker als gut gelaunter Vizepräsident unter Barack Obama im Gedächtnis, die Älteren bewundern ihn als politisches Schwergewicht im Senat.

Dort gelang es Biden immer wieder, für wichtige Gesetzesvorhaben die Stimmen republikanischer Abgeordneter zu organisieren. Als Vorsitzender des Justizausschusses schränkte er die Waffenrechte ein, weitete die Rechte für Frauen aus und engagierte sich gegen Massenvernichtungswaffen.

Doch seine politische Bilanz ist gemischt. Gegner werfen ihm zum Beispiel vor, den Einmarsch in den Irak unterstützt, jahrelang die Todesstrafe befürwortet und an einem umstrittenen Gesetz der Clinton-Jahre mitgewirkt zu haben, das die Kriminalität bekämpfen sollte, aber vor allem dazu führte, dass heute die Gefängnisse voll sind.

Biden hat sich still nach links bewegt

Auch heute scheint Biden über dem Kleinklein der Tagespolitik zu schweben. Seit Barack Obama nicht mehr Präsident ist, sind die Demokraten weit nach links gerückt und fremdeln mit Biden. Junge Kandidaten drängen an die Macht, in der Partei tobt ein Kampf zwischen dem ökologischen und dem sozialpolitischen Flügel. Politische Erfahrung, wie Biden sie vorweisen kann, spielt da nur eine untergeordnete Rolle.

Die mediale Deutungshoheit obliegt Politikern wie der jungen Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, die unlängst einen "Green New Deal" vorgelegt hat, der von den Medien gefeiert und von Experten zerlegt wurde.

Doch auch Biden hat sich im Wahlkampf still nach links bewegt, getrieben von seinem linksliberalen Konkurrenten Bernie Sanders. Mit dem will Biden jetzt gemeinsame inhaltliche Arbeitsgruppen einsetzen.

Biden will das alte Amerika zurück

Indem sich Biden, anders als viele andere in seiner Partei, jeder Radikalität radikal entzieht und traditionelle Werte allzu linken Positionen vorzieht, ist er ein ernst zu nehmender Kandidat für eine breite Wählerschaft und auch für enttäuschte Trump-Anhänger wählbar.

In einer Grundsatzrede setzte der erfahrene Außenpolitiker Biden einen Kontrapunkt zur sprunghaften Außenpolitik des Amtsinhabers. Er versprach, unter seiner Präsidentschaft das Verhältnis zu den traditionellen Verbündeten zu reparieren, zum Pariser Klimaabkommen zurückzukehren und die amerikanische Glaubwürdigkeit in der Welt wiederherzustellen.

Dass sich Biden auch dafür rühmte, die Ausgaben für die NATO unter Obama erhöht zu haben, mag seinen demokratischen Mitbewerbern nicht gefallen: Denn viele von ihnen würden beim Verteidigungshaushalt lieber den Rotstift ansetzen, um weitreichende sozialpolitische Forderungen durchzusetzen.

Der "third way" als Kompromiss

Doch Biden beschreibt mit seinen Idealen den "third way", den dritten Weg, der eine Art Kompromiss zwischen linken Demokraten und rechten Republikanern markiert. Genutzt haben dürfte Biden in dieser Hinsicht sicherlich, dass sich zuletzt mächtige Unterstützer hinter ihm eingereiht haben.

In der vergangenen Woche zählte dazu auch Biden-Freund und Ex-Präsident Barack Obama, der an der Basis immer noch verehrt wird, bislang aber aus dem Hintergrund gewirkt und sich offiziell aus dem Kandidatenrennen herausgehalten hatte.

Sein einstiger Vizepräsident könne die USA durch eine der "dunkelsten Zeiten der Geschichte führen", so Obama. Er brächte Anstand, Wissen und Würde zurück ins Weiße Haus. Es mag auch an mehreren Treffen mit Obama gelegen haben, dass sich selbst Bernie Sanders am Reihenschluss der Demokraten beteiligte.

Doch um seinen "third way" auch gegen Donald Trump glaubhaft zu machen, darf sich Biden nicht mehr zu viele Patzer leisten. Davon gab es allein in den letzten Wochen noch einige.

Seinem Image als Kümmerer schadete beispielsweise die Aufforderung an die eigenen Anhänger, trotz COVID-19 bei den Vorwahlen wählen zu gehen. Es sah erstaunlich rücksichtslos aus, dass Biden die Vorwahlen schnellstmöglich hinter sich bringen wollte und dafür sogar die Ausbreitung eines Virus in Kauf nahm, das bislang 30.000 US-Bürger getötet hat. Das gilt besonders für einen Kandidaten, der sich ausdrücklich als moralische Alternative zum amtierenden Präsidenten inszenieren will.

2020 ist für Biden die letzte Chance, sich seinen Traum von der Präsidentschaft zu erfüllen. Er wäre dann 78 Jahre alt. Und muss bis dahin beweisen, ob er aus der Zeit gefallen ist – oder für das Beste von früher steht.

Hinweis: Dies ist ein Artikel aus unserem Archiv, den wir aus aktuellem Anlass um neue Entwicklungen ergänzt haben.

Verwendete Quellen:

  • New York Times: "Why Joe Biden’s Age Worries Some Democratic Allies and Voters"
  • The New York Times Magazine: "Joe Biden Wants to Take America Back to a Time Before Trump"
  • The Atlantic: "Joe Biden Remembers When"
  • Wikipedia: "Political Positions of Joe Biden"
  • Observer: "Is Joe Biden Actually Moderate or Is He More Progressive Than We Think?"
  • The Washington Post: "The Poignant But Complicated Friendship of Joe Biden and Barack Obama"
  • Business Insider: "Joe Biden probably won’t stop making comments some people find sexist, but it won’t necessarily hurt his campaign"
  • The Washington Post: "Does Joe Biden have a woman problem?"
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