Freie Ränge im Plenarsaal des Bundestags ärgern viele Bürgerinnen und Bürger. Allerdings gibt es dafür häufig gute Gründe. Was machen Menschen in der Politik, wenn sie nicht im Parlament sitzen? Bundestagsabgeordnete geben Einblick in ihre Terminkalender.

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Am 30. März stand ein ungewöhnlicher Termin auf der Tagesordnung des Bundestags: Der britische König Charles III. hielt dort eine Ansprache. Ansonsten war der 30. März für den CDU-Abgeordneten Sepp Müller ein Arbeitstag wie jeder andere. Also ein langer.

Der Terminkalender des stellvertretenden CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden sah an diesem Tag in etwa so aus:

  • Start um 8:00 Uhr mit einem Videogespräch mit dem CDU-Kreisverband Dessau
  • 9:00 Uhr: Debatte im Plenarsaal zum Sportbericht der Bundesregierung
  • Zwischendurch Gespräche mit dem Ostbeauftragten der Bundesregierung und einem Kollegen aus der Berliner CDU
  • Treffen mit Eduard Prinz von Anhalt, danach ab 12:00 Uhr Rede von König Charles III. im Plenarsaal
  • Mittagessen: Austausch mit den Vorständen der ostdeutschen CDU-Landesgruppen
  • Nachmittags Rede im Plenum zum Strukturwandel in der Lausitz
  • 17:00 Uhr: Flüchtlingsgipfel der CDU/CSU-Fraktion mit Vertretern von Ländern und Kommunen im Paul-Löbe-Haus des Bundestags
  • Zwischendurch Gespräch mit dem Beirat Jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt
  • Zum Abendessen im Nachgang des Flüchtlingsgipfels mit Landes- und Kommunalpolitikern aus seinem Bundesland

Um 22:00 Uhr war der Arbeitstag damit nicht zu Ende. "Nach so einem Tag fallen noch ein, zwei Stunden Büroarbeit an, die man vorher nicht geschafft hat", sagt Müller.

Plenarsaal im Bundestag: Vorne besetzt, hinten meistens leer

Parlamentsblau heißt die Farbe der Sitze im Plenarsaal des Bundestags. Von ihr bekommt das Publikum auf den Besuchertribünen oder vor dem Fernseher häufig ziemlich viel zu sehen: Bei vielen Debatten bleiben die meisten Stühle unbesetzt. In den vorderen Reihen versammeln sich die Abgeordneten, hören den Kolleginnen und Kollegen zu, applaudieren oder rufen dazwischen. Aber in der Mitte und weiter hinten? Herrscht häufig gähnende Leere.

Die hinteren Reihen im Plenarsaal des Bundestags sind nur selten besetzt. Hier verfolgt der Abgeordnete Stefan Seidler (SSW) eine Haushaltsdebatte. © dpa/Jörg Carstensen

Die freien Ränge im hohen Haus der Demokratie sind immer wieder ein Ärgernis für Bürgerinnen und Bürger. Wenn Abgeordnete Besuchergruppen durch das Berliner Reichstagsgebäude führen, hören sie diese Frage besonders häufig: Warum ist es im Bundestag so oft so leer? Vereinfacht gesagt lautet die Antwort: Die eigentliche Arbeit des Parlaments findet woanders statt.

Zum Beispiel in den 25 ständigen Ausschüssen, die der Bundestag in dieser Wahlperiode hat. Jede und jeder Abgeordneter ist in der Regel Mitglied in mindestens einem Ausschuss. Zum Beispiel zu Finanzen oder Umwelt, zu Sport oder Tourismus. Dort beraten und verändern die Abgeordneten Gesetzentwürfe, befragen Expertinnen und Experten.

Sepp Müller (CDU). © picture alliance / Flashpic/Jens Krick

Dabei gehe es auch um die kleinsten Details, sagt der CDU-Abgeordnete Sepp Müller: "Welcher Paragraf steht wo im Gesetz? Steht in diesem Satz ein ,und' oder ein ,oder'?" Der Dauerlauf der Gesetzgebung finde rund um den Plenarsaal statt. "Die Debatte dort ist nur noch das Einlaufen ins Ziel."

In der 19. Wahlperiode (2017 bis 2021) trat der Bundestag zu 239 Plenarsitzungen zusammen. In der gleichen Zeit gab es 3836 Sitzungen der damals 24 ständigen Ausschüsse. Kaum zu zählen sind die vielen Berichterstattergespräche, in denen Abgeordnete konkrete Gesetzesvorhaben vorbereiten, bevor sie in die Ausschüsse und damit ins parlamentarische Räderwerk kommen.

Sitzungen ziehen sich bis in die Nacht

Isabel Cademartori (SPD). © dpa/Uwe Anspach

Interviews, Gespräche mit Bürgerinnen und Bürgern, mit Verbandsvertretern oder Wissenschaftlerinnen, Podiumsdiskussionen oder Verhandlungen mit den Koalitionspartnern: Die Terminkalender von Mitgliedern des Bundestags sind voll damit. "Wenn alle Abgeordneten immer nur im Plenum sitzen würden, dann würden wir nicht viel schaffen", sagt Isabel Cademartori.

Die SPD-Abgeordnete ist seit 2021 Mitglied des Bundestags und Mitglied im Verkehrs- und im Bauausschuss. In ihrem Terminkalender geht es an Donnerstagen – den Hauptsitzungstagen des Bundestages – ebenfalls eng zu.

Zum Beispiel der 20. April: Erster Kalendereintrag ist ein Frühstück des Bundesverbands Bausoftware. Zwischen den Zeiten im Plenarsaal telefoniert Cademartori mit der IG Metall, empfängt eine Schülergruppe aus ihrer Heimatstadt Mannheim, trifft sich mit der Arbeitsgruppe Kommunales und der Energiepolitischen Kommission, hält abends ein Grußwort beim Mittelstandsverband abfallbasierter Kraftstoffe.

Ab 21:00 Uhr heißt es dann noch einmal, Präsenz im Plenarsaal zu zeigen. "Die drei, vier Stunden Plenumsdienst sind die ruhigste Zeit, die ich habe", sagt Cademartori. "Wir nutzen diese Zeit auch schon mal, um Aufgaben zu erledigen, wie E-Mails und Schriftverkehr abzuarbeiten, für die wir am Tag nicht die Zeit finden."

Wenn die hinteren Reihen im Plenarsaal freibleiben, liegt das auch an der großen Bandbreite der Themen. An Donnerstagen ziehen sich die Sitzungen des Bundestags manchmal bis in die Nacht auf Freitag. Der Tagesordnungspunkt "Medizinische Versorgung für Lipödem-Betroffene" am Donnerstag um 22:25 Uhr zum Beispiel ist für Gesundheitspolitiker wichtig. Aber Verteidigungs- oder Bildungsexpertinnen können diese Zeit womöglich besser nutzen. Auf Abruf müssen sie trotzdem sein.

In 15 Minuten ins Plenum: Abgeordnete müssen abrufbereit sein

Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen). © dpa/Britta Pedersen

"Uns ist die Präsenz im Plenarsaal wichtig. Aber wir müssen auch berücksichtigen, dass parallel 1000 andere Dinge zu erledigen sind", sagt die Grünen-Abgeordnete Irene Mihalic. "Die eigentliche Arbeit im Maschinenraum des Parlaments findet nicht im Plenarsaal statt. Aber im Plenarsaal hat man die Öffentlichkeit für das, was man erarbeitet hat."

Die Gelsenkirchenerin Mihalic ist Erste Parlamentarische Geschäftsführerin ihrer Fraktion, im Parlamentsdeutsch kurz PGF genannt. Diese Funktion spielt eine wichtige Rolle im Parlamentsbetrieb: Die PGFs der Fraktionen sorgen für gefüllte vordere Ränge, melden Rednerinnen und Redner an – und achten darauf, dass sich trotz aller Aufgaben niemand allzu weit vom Reichstagsgebäude entfernt.

Denn immer wieder kommt es zu kurzfristigen Abstimmungen, bei denen jede Stimme nötig sein kann. "Alle Abgeordneten halten sich im Umfeld des Plenarsaals auf und müssen ständig verfügbar sein", sagt Mihalic. "Wenn kurzfristig eine Abstimmung angesetzt wird, müssen sie den Plenarsaal innerhalb von 15 Minuten erreichen können." Das kann auch mal eine kleine Sporteinlage erfordern, denn die Wege sind im weitläufigen Berliner Parlamentskomplex manchmal lang.

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AfD fordert mehr Sitzungswochen: "Zu viel Termine in zu kurzer Zeit"

Norbert Kleinwächter (AfD). © dpa/Geisler-Fotopress/Frederic Kern

Als 2017 die AfD erstmals in den Bundestag einzog, prangerten ihre Abgeordneten die vielen leeren Sitzreihen an – und warfen den anderen Fraktionen vor, das Plenum zu vernachlässigen. Zunächst schaffte es die AfD häufig auf eine größere Mannschaftsstärke als die anderen Fraktionen – doch inzwischen bleiben auch bei der AfD die hinteren Reihen meistens leer.

"Donnerstags beginnen die Plenarsitzungen um 9 Uhr und ziehen sich manchmal bis 3 Uhr nachts. Es ist eine physische Unmöglichkeit, 18 Stunden auf dem Stuhl zu sitzen", sagt Norbert Kleinwächter, stellvertretender Vorsitzender der AfD-Fraktion. Der 37-Jährige aus Brandenburg findet es weiterhin falsch, dass das Plenum häufig vor vielen leeren Rängen tagt. Er sagt aber auch: "Das Problem ist, dass es in dieser Struktur nicht anders geht." Die AfD fordert daher, die Zahl der Sitzungswochen pro Jahr zu erhöhen und damit den Parlamentsbetrieb zu entzerren. "Zurzeit prasseln zu viele Termine in zu kurzer Zeit auf uns ein."

Dem Sitzungskalender für 2023 zufolge sind 22 der 52 Wochen des Jahres Sitzungswochen, in denen der Bundestag tagt. Trotz der AfD-Kritik wird es dabei wohl bleiben. Denn den anderen Fraktionen ist es wichtig, dass Abgeordnete zwischendurch Zeit in ihren Wahlkreisen verbringen.

Ein Job bis an die Grenzen – und darüber hinaus

Bundestagsabgeordnete haben einen gutbezahlten Job: Ihre "Aufwandsentschädigung" beträgt derzeit laut Bundestagsverwaltung zu versteuernde 10.323,29 Euro im Monat. Allerdings zahlen sie auch den Preis einer hohen Belastung.

Immer wieder kommen Menschen in der Politik an ihre Grenzen: Sowohl die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht als auch der SPD-Außenpolitiker Michael Roth mussten wegen körperlicher und psychischer Erschöpfung eine Auszeit nehmen. Am 7. November 2019 brach ein CDU-Abgeordneter bei den letzten Sätzen seiner Rede hinter dem Pult des Bundestags zusammen. Am selben Tag musste eine Linken-Abgeordnete ärztlich behandelt werden.

Beklagen will sich niemand über diesen Job – schließlich haben sich Abgeordnete ihn selbst ausgesucht. "Wir wurden gewählt, um zum Wohle der Bürger unter Strom zu stehen", sagt AfD-Mann Kleinwächter. Allerdings tun Politikerinnen und Politiker gut daran, sich kleine Freiräume zu erhalten. "Ich versuche bei meinem Team durchzusetzen, dass ich jeden Tag eine Stunde für mich habe", sagt die SPD-Abgeordnete Cademartori. "Man muss da einen Rhythmus finden und auch mal Termine absagen."

In einem sind sich alle vier Abgeordneten einig: Stress hatten sie erwartet, als sie erstmals in den Bundestag einzogen. Allerdings nicht in dieser Form. CDU-Politiker Müller sagt: "Das ist wie, wenn man ein Kind bekommt: Wenn man Abgeordneter wird, weiß man, dass das Leben sich ändern wird. Aber wie intensiv es sich ändert, realisiert man erst, wenn es so weit ist."

Verwendete Quellen:

  • Gespräche mit Isabel Cademartori, Sepp Müller, Irene Mihalic und Norbert Kleinwächter
  • Bundestag.de: Sitzungskalender
  • Bundestag.de: Entschädigung
  • Deutscher Bundestag: Taschenbuch "So arbeitet der Deutsche Bundestag. 20. Wahlperiode"
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Teaserbild: © dpa/Jörg Carstensen