• Während zwei Jahren Pandemie veränderten sich nicht nur die Maßnahmen zur Virusbekämpfung, sondern auch die Ziele.
  • An einer Absicht hielt die Politik bislang immer fest: Niemals dürfe es zu einer Situation kommen, in der nicht jedem Patienten die für ihn notwendige medizinische Versorgung gewährleistet werden könne.
  • Eine sogenannte "harte Triage", wie es sie etwa im Frühjahr 2020 im italienischen Bergamo gab, müsse um jeden Preis verhindert werden.

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Zwei Jahre lang scheint diese Garantie allen Wellen getrotzt zu haben. Die Triage blieb bislang vor allem ein bedrohliches, aber theoretisches Szenario. Zwar gab es einzelne Berichte, nach denen zum Beispiel in Sachsen triagiert werden musste. Doch entpuppten sich diese meist als Falschmeldung oder als sehr weite Interpretation.

Die für Januar erwartete Omikron-Welle, von der niemand genau weiß, wie hart sie das ausgezehrte Gesundheitssystem treffen wird, begründet die Sorge vor der Triage aufs Neue, weil Omikron mit seiner rasanten Ausbreitungsgeschwindigkeit zu massiven krankheitsbedingten Arbeitsausfällen im Gesundheitssystem führen könnte – eine Gefahr, auf die zuletzt der Virologe Christian Drosten hinwies. Eine breite Debatte, nach welchen Kriterien in einer solchen Entscheidung über Leben und Tod entschieden werden müsste, hat es in Deutschland aber noch nicht gegeben – auch nicht im Deutschen Bundestag.

Was bedeutet "Triage"?

Triage, ein aus der Militärmedizin stammender Begriff, wird aus dem Französischen mit "Sortieren" übersetzt und wurde während der Corona-Pandemie meist mit einer sogenannten "harten Triage" gleichgesetzt. In diesem Extremfall stehen zu wenig Geräte, Personal oder Zeit zur Verfügung, um alle Patienten auf einer Intensivstation zu versorgen – Ärzte und Pfleger müssen sich also entscheiden, welcher Patient überhaupt versorgt wird.

Im medizinischen Alltag beschreibt die Triage hingegen eine weit weniger bedrohliche Situation, die zum Normalfall in Notaufnahmen gehört und vom Patienten meist unbemerkt bleibt: Patienten mit schweren oder lebensbedrohlichen Symptomen werden schnell versorgt und gegebenenfalls jenen vorgezogen, die durch eine spätere Behandlung keine medizinischen Nachteile haben. In solchen Fällen bleibt gesichert, dass alle eintreffenden Patienten behandelt werden, nur eben nicht gleich schnell. Um eine finale Entscheidung zwischen Leben und Tod geht es nicht.

Wie sieht Triage in der Coronakrise aus?

Bei der harten Triage gilt dieses Prinzip nicht mehr. Wenn die Ressourcen nicht ausreichen, um alle Patienten zu behandeln, weil der Zustrom an Kranken immer weiter ansteigt, entsteht ein moralisches Dilemma: Es kann nicht mehr allen geholfen werden. Solche Situationen können auch bei Naturkatastrophen oder Flugzeugabstürzen entstehen. Durch die Triage soll dann die Zahl der Überlebenden maximiert werden.

Anders als bei der normalen Triage, wo zuerst jenen Patienten geholfen wird, denen es am schlechtesten geht, werden bei der harten Triage die Patienten mit der besten klinischen Erfolgsaussicht bevorzugt. Jene also, die die intensivmedizinische Behandlung mit der größten Wahrscheinlichkeit überleben. Die Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) beschreibt auf ihrer Internetseite einige Kriterien, an denen sich Mediziner orientieren können. Indikatoren für geringe Erfolgsaussichten sind Krankheitsbilder wie Organversagen, Lungenversagen, erhöhte Gebrechlichkeit, fortgeschrittene Krebserkrankungen oder Immunschwächen. Entschieden wird nach dem Vier-Augen-Prinzip.

Welche Rolle spielt der Impfstatus für die Triage?

Das Divi und sieben weitere Fachgesellschaften haben sich in einer aktuellen Stellungnahme dagegen ausgesprochen, den Impfstatus für die Triage-Entscheidung heranzuziehen. Zur Begründung schreibt die Organisation, dass die Hilfspflichten im Gesundheitswesen bei lebensbedrohlichen Erkrankungen unabhängig vom Auslöser oder dem Verhalten der Patienten gelten.

Dieser Linie schließt sich Georg Marckmann, Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin in München, im Gespräch mit unserer Redaktion an. "Mit guten Gründen wird die Behandlung in unserem Gesundheitssystem nicht von einem möglichen Selbstverschulden der Erkrankung oder der Verletzung abhängig gemacht", so der Medizinethiker.

"Das können wir nicht plötzlich für die Behandlung schwerkranker COVID-19-Patienten ändern, zumal in vielen Fällen nicht sicher ist, ob es sich beim Impfverzicht wirklich um eine wohlinformierte Entscheidung des Betroffenen handelt, wenn diese zum Beispiel auf Falschinformationen aus dem Kreis der Querdenker beruht", sagt Marckmann.

Anders sieht es Michael Coors, Professor für Theologische Ethik an der Universität Zürich. "Man muss sich klar machen, dass die Triage einen radikalen Bruch mit den moralischen Standards darstellt", so der Ethiker im Gespräch mit unserer Redaktion. "Normalerweise gilt zu Recht, dass das individuelle Verhalten einer Person keine Auswirkung darauf hat, ob sie medizinisch behandelt wird oder nicht. Nur ist die Situation in einer Triage nicht normal."

Es sei offensichtlich, dass der Hauptgrund für die drohende Überlastung der Intensivversorgung darin bestehe, dass sich zu wenige Menschen impfen ließen. "Darum tragen die Personen, die dies freiwillig nicht tun, eine erhebliche Mitverantwortung für diese Situation, in der man Menschen wird sterben lassen müssen. Vor diesem Hintergrund ist es fair, diese Menschen hintenanzustellen."

Wie könnte eine Triage nach Geimpftenstatus umgesetzt werden?

Auch Befürworter einer Triage nach Impfpflicht betonen, dass es sich dabei vor allem um eine theoretische Debatte handelt – umsetzbar sei sie im Ernstfall kaum. "Man müsste ja, um fair zu bleiben, diejenigen ausnehmen, die von anderen in die Irre geführt wurden", sagt Ethiker Michael Coors.

Nebst Verschwörungstheoretikern oder Impfgegnern gelte das auch für Menschen, die von ihrem Arzt falsch informiert wurden: "Das wird sich aber in der Situation einer Triage-Entscheidung nicht überprüfen lassen." Ähnlich sieht es Georg Marckmann, der die Triage nach Impfstatus ablehnt: "Es dürfte in der Akutsituation kaum möglich sein, den Impfstatus hinreichend sicher nachzuweisen."

Beide weisen jedoch darauf hin, dass der Verzicht auf den Impfstatus als Triage-Kriterium ein anderes moralisches Dilemma verschärfe – dass nämlich die Schwächsten auf der Intensivstation das Nachsehen haben. "Diejenigen Menschen, denen es gesundheitlich sowieso schon schlechter geht, haben ein besonders hohes Risiko nicht behandelt zu werden", so Ethiker Coors. Das gelte für Raucher oder Übergewichtige, die nicht wegen ihres Lebensstils verantwortlich für ihre Erkrankung gemacht würden, sondern weil sie eine schlechtere Prognose haben als andere Patienten: "Sie tragen das Risiko, für das die Menschen verantwortlich sind, die sich der Impfung verweigern und dann an COVID erkranken. Es wäre vermutlich anders, wenn der Impfstatus zum Triage-Kriterium würde."

Wie ist der Stand der Debatte in Deutschland und im Ausland?

In Deutschland ist die Frage, ob der Impfstatus eine Rolle für die Triage spielen sollte, vor allem eine Fachdebatte unter Ethikern und Medizinern. Im Plenum des Deutschen Bundestages oder in den jeweiligen Fachausschüssen hat eine breite Diskussion bislang nicht stattgefunden.

Der Verhaltensforscher Armin Falk, der der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und damit dem höchsten wissenschaftlichen Beratungsgremium der Bundesregierung angehört, forderte im Juli in einem Interview jedoch, den Impfstatus bei einer solchen Entscheidung zu berücksichtigen: "Wenn (…) wir nochmal in eine Triage-Situation kämen (…) und wir dann vor der Wahl stehen, ob ein Geimpfter oder ein Nicht-Geimpfter die Behandlung bekommt, dann würde ich sagen, dass der Impfstatus mit in die Abwägung einfließen sollte."

Weil diese Frage bislang auf die Ärzte abgewälzt wird, forderte das Deutsche Institut für Menschenrechte im Dezember den Gesetzgeber zu einem Triage-Gesetz auf. Andernfalls würden behinderte und alte Menschen diskriminiert. Die Politik dürfe nicht auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts warten.

Auch im deutschsprachigen Ausland wird die Debatte geführt – anders als in Deutschland auch in der Politik. In der Schweiz sprach sich etwa die Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel dafür aus, dass Ungeimpfte mittels Patientenverfügung auf Intensivbehandlung verzichten. Ähnlich äußerten sich Politiker anderer Parteien. Auch die Schweizer Krebsorganisation Oncosuisse plädierte dafür, Geimpfte bevorzugt zu behandeln, weil Krebspatienten ansonsten benachteiligt würden.

Über die Experten:
Prof. Michael Coors ist außerordentlicher Professor für Theologische Ethik an der Universität Zürich und leitet dort das Institut für Sozialethik und das interdisziplinäre Ethik-Zentrum der Universität.
Prof. Georg Marckmann ist Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Verwendete Quellen:

  • Deutsche Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin et al. - Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie
  • Tweet von Christian Drosten
  • Deutsches Institut für Menschenrechte - Triage: Gesetzgeber muss diskriminierungsfreie Entscheidung über intensivmedizinische Ressourcen sicherstellen
  • Frankfurter Allgemeine Zeitung – Interview mit Armin Falk
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