• Die Impfquoten weltweit sind sehr unterschiedlich, was auch daran liegt, dass der Impfstoff ungleich verteilt ist.
  • Vor allem die ärmeren Länder in Afrika haben bislang sehr viel weniger Impfstoff bekommen, als sie für ihre Bevölkerung theoretisch bräuchten - wohingegen etwa die EU ihre Einwohner mehrfach durchimpfen könnte.
  • Die These, dass Virusvarianten wie das zuerst in Südafrika entdeckte Omikron quasi die Quittung für den Egoismus des Westens sind, greift dennoch zu kurz.

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Nun also Omikron. Eine neue Virusvariante, die sich wohl bald auch hier ausbreiten und einen angepassten Impfstoff erforderlich machen wird. Denn die Virusvariante scheint nicht nur ansteckender zu sein als die derzeit vorherrschende Delta-Variante. Sie entkommt offenbar auch leichter der Immunabwehr. "Meine feste Erwartung ist, dass es einen Neutralisationsverlust gibt wie bei keiner anderen Variante zuvor", sagte der Virologe Christian Drosten jüngst im Coronavirus-Update des NDR.

Ob die Omikron-Variante schwerer krank macht, ist derzeit noch unklar. Aber allein, dass es die erste Variante ist, an die Impfstoffhersteller ihre Vakzine anpassen, zeigt, dass Omikron besonders ist. Es hat laut WHO 45 bis 52 Mutationen, mehr als die Hälfte davon im Spike-Protein, mit dem das Virus an eine Zelle andockt.

Das sind mehr Mutationen als bei den vorherigen Varianten Alpha (zuerst entdeckt im September 2020 in Großbritannien), Beta (Mai 2020; Südafrika), Gamma (November 2020; Brasilien) und Delta (Oktober 2020; Indien).

Virologe: "Je mehr Virus in der Welt ist, desto größer die Gefahr der Variantenbildung"

Viren mutieren häufig, vor allem RNA-Viren wie das Coronavirus SARS-CoV-2. "Sobald die Viren in eine Zelle kommen und sich zu reproduzieren beginnen, können sie auch mutieren", sagt die Virologin Christine Dahlke vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) im Gespräch mit unserer Redaktion. Denn bei der Reproduktion passieren Fehler, es können neue Kombinationen von Aminosäuren entstehen und damit neue Proteine.

Viele Mutationen haben gar keine Auswirkungen, aber manche machen das Virus "fitter", wie die Virologen sagen. Das kann heißen: Es ist ansteckender als andere Varianten. Oder: Es umgeht den Immunschutz seines Wirts. Oder beides.

Doch was hat das nun mit der Impfquote zu tun? "Bei einer niedrigen Impfquote können sich noch sehr viele Menschen anstecken und das Virus verbreiten", sagt uns der Virologe Stephan Ludwig von der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster. Dadurch komme es zu einer sehr großen Viruslast in der Bevölkerung. "Je mehr Virus in der Welt ist, desto größer ist die Gefahr einer Variantenbildung."

Viel Zeit, um zu mutieren

Dabei kann laut Christine Dahlke vor allem die Dauer entscheidend sein, in der das Virus in einem Körper bleiben und sich reproduzieren kann. "Je länger ein Virus in einem Wirt bleibt, desto mehr Zeit hat es für Mutationen und desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass am Ende ein 'fitteres' Virus entsteht", sagt die Virologin. Bei einer geimpften Person habe das Virus in der Regel drei oder vier Tage lang die Chance, sich zu vervielfältigen und zu verändern. Bei ungeimpften Menschen bis zu zehn Tage.

Dass "fittere" Varianten häufig da entstehen, wo die Impfquote besonders niedrig ist, erscheint logisch. Die andere Frage ist, ob sie sich auch durchsetzen und dann weiter ausbreiten.

Der Epidemiologe Martin Eichner von der Universität Tübingen bezweifelt, dass die Impfquote da allein ausschlaggebend ist. "Wenn eine neue Variante spät im Körper entsteht, sind Haushaltsmitglieder und enge Kontakte vielleicht schon von dem Infizierten mit der ursprünglichen Variante angesteckt worden", schreibt er uns. Dann hätte die neue Variante dort keine Chance mehr.

"Weil sich die anderen Viren schon sehr stark vermehrt haben und das neue Virus entweder keinen Zugang mehr findet, weil die unspezifische Abwehr des Körpers schon aktiviert wurde. Oder weil sie zahlenmäßig so unterlegen ist, dass es zu lange dauern würde, die bereits riesige Population der anderen Viren zu überwachsen." Folglich wäre die neue Variante bei der nächsten Übertragung nicht oder nur in geringen Mengen dabei.

Was macht "immuner"?

Die Frage, ob eine geringe Impfquote allein die Mutation von Viren und ihre Ausbreitung begünstigt, kann nicht eindeutig mit Ja oder Nein beantwortet werden. Entscheidend sind die Rahmenbedingungen. "In Afrika sind zwei Dinge anders als in Deutschland, die epidemiologisch extrem wichtig sind“, sagt Eichner.

Erstens bestehe mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus Kindern und Jugendlichen und zweitens finde das alltägliche Leben oft dicht gedrängt statt. Eichner ist überzeugt, dass sich das Virus trotz der Masken- und Abstandspflicht und anderer staatlicher Verordnungen hier sehr stark ausgebreitet hat, "vielleicht sogar schon mehr als einmal in der gleichen Bevölkerung".

Nach den beiden Wellen Mitte 2020 und Anfang dieses Jahres, hat es im Juni, Juli und August (den dortigen Wintermonaten) eine große Delta-Welle gegeben. Niemand weiß es genau, aber die Zahl der Genesenen müsste vor allem im Süden Afrikas hoch sein. Allerdings gibt die Virologin Dahlke zu bedenken, dass viele Krankheiten, die das Immunsystem schwächen, auf dem afrikanischen Kontinent verbreiteter sind als hier. Daher sollte man aus ihrer Sicht vorsichtig sein, schon jetzt wichtige Schlüsse zu ziehen und zum Beispiel die Bevölkerung dort auch ohne Impfungen als "immuner" als eine gut durchgeimpfte Bevölkerung zu sehen.

"Einige Parasitenerkrankungen führen tatsächlich gezielte Immunsuppression durch", sagt Martin Eichner. "Andererseits sind auch Viren, darunter Coronaviren, allgegenwärtig und könnten das Immunsystem fit halten." Die Impfwirkung lasse über die Zeit deutlich nach, sagt der Epidemiologe.

Ob die Immunität durch eine Infektion länger hält? Eine Studie aus Israel gibt darauf zumindest erste Hinweise.

Andere Formen von schädlichem Egoismus

Eichner, der im Moment in Kamerun unterrichtet und immer wieder länger in Afrika ist, haben seine Beobachtungen zu folgendem Schluss geführt: Eine gleichere Verteilung von Impfstoff hätte nicht verhindert, dass Mutationen am Ende auch in Europa und in Deutschland ankommen. Dabei ist es für ihn keine Frage, dass die ärmeren Länder der Welt mehr Hilfe von den reichen Staaten bekommen sollten.

"Und natürlich wäre es auch in Afrika einigen Risikopatienten besser gegangen und sie wären vielleicht heute noch am Leben, wenn sie vorher geimpft worden wären", sagt er. Eichner argumentiert auch nicht dagegen, dass eine hohe weltweite Impfquote das Risiko durch gefährliche Coronavirus-Varianten senken würde - die These aber, dass sich der Impfstoff-Egoismus der reicheren Länder mit Virusvarianten rächt, findet er Unsinn.

Der Virologe Stephan Ludwig würde Virusvarianten ebenfalls nicht als so etwas wie eine Rache bezeichnen wollen. "Unsere Probleme mit dem Virus sind im Moment hausgemacht", er meint damit die zahlreichen Impfverweigerer im Land. "Wenn wir schon von Egoismus sprechen: Einige Mitbürger verwechseln Egoismus mit dem Recht auf Freiheit - und schränken mit diesem egoistischen Verhalten die Freiheit aller ein."

Über die Experten: Dr. Christine Dahlke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und Projektmanagerin beim Deutschen Zentrum für Infektionsforschung (DZIF). Stephan Ludwig ist Professor am Institut für Virologie an der Westfälischen Wilhelm-Universität (WWU) Münster. Martin Eichner ist Professor am Institut für Klinische Epidemiologie und angewandte Biometrie der Universität Tübingen.

Verwendete Quellen:

  • Telefoninterview mit Dr. Christine Dahlke
  • Mail-Antworten von Professor Stephan Ludwig und Professor Martin Eichner
  • Studie aus Israel zum Vergleich zwischen den Immunität durch Infektion und durch Impfung
  • NDR-Podcast Coronavirus-Update, Folge vom 7. Dezember 2021
  • WHO: Überblick zur Omikron-Variante
  • WHO-Karte: Zugang zu Impfstoffen https://data.undp.org/vaccine-equity/accessibility/
  • Our World in Data - Vaccinations https://ourworldindata.org/covid-vaccinations,
  • tagesschau.de: Delta verbreitet sich wie ein Lauffeuer

WHO-Chef: Risiko erneuter Ansteckung bei Omikron vermutlich höher

Die Omikron-Variante des Coronavirus könnte nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu einer höheren Reinfektionsrate, aber milderen Krankheitsverläufen führen. Das sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus in Genf. (Teaserbild: picture alliance/dpa/KEYSTONE/AFP POOL/Fabrice Coffrini) © ProSiebenSat.1
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