Antonio Rüdigers Verletzung wirft im ohnehin schon wackeligen Defensivverbund neue Fragen auf. Ersatz Jonathan Tah ist zwar eine logische Lösung - sie befreit Bundestrainer Joachim Löw aber nicht von dessen Kardinalproblem.

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Ein Blick zurück könnte helfen: Als sich Marco Reus vor gut zwei Jahren kurz vor dem Abflug nach Brasilien schwer verletzte und ersetzt werden musste, drängten sich allerhand Offensivkräfte auf, Reus' Platz im 23-Mann-Kader einzunehmen.

Bundestrainer Joachim Löw aber rüstete völlig überraschend seine Defensive auf und berief den verhältnismäßig unbekannten Shkodran Mustafi, einen gelernten Innenverteidiger.

Nun hat sich am späten Dienstagabend Antonio Rüdiger schwer verletzt. Der Kreuzbandriss des Innenverteidigers bringt ein paar mehr Probleme mit sich als Reus' Verletzung damals. Ausfälle in der Defensive sind für die deutsche Mannschaft schwerer zu kompensieren, in der Vorbereitung gilt besonders die Defensivbewegung der gesamten Mannschaft als Schwerpunkt.

Tah als Hummels-Ersatz-Ersatz

Ein Fixpunkt war da bisher Rüdiger, der in diesem Kalenderjahr in allen vier Testspielen als einziger Spieler überhaupt jeweils die vollen 90 Minuten durchspielen durfte. Dass Löw jetzt anders als damals für keine große Überraschung sorgt und für einen verletzten Innenverteidiger einen hoffnungsvollen Innenverteidiger nachnominiert, ist auch ein Indiz dafür, dass die Situation in der Abwehr durchaus angespannt ist und für Experimente keine Zeit bleibt.

Jonathan Tah nimmt Rüdigers Platz ein. Es ist ein Eins-zu-eins-Tausch, positionsgetreu und konservativ. Trotz Tahs Unerfahrenheit: Der Leverkusener kommt bisher genau auf einen Länderspieleinsatz. Beim 2:3 im Testspiel gegen England ersetzte er nach der Pause Mats Hummels. Jetzt ist er so etwas wie der Hummels-Ersatz-Ersatz. Und eine weitere Unbekannte in einer ohnehin schon wackeligen Gleichung.

Jerome Boateng ist selbstverständlich der Anker in der deutschen Defensive, einer der Besten der Welt auf seiner Position. Man darf aber auch nicht vergessen, dass Boateng über ein Vierteljahr lang kein Spiel bestritten hat, von Januar bis Ende April fehlte er den Bayern. Seitdem hat er erst sechs Partien bestritten. Boateng hat noch Luft nach oben, seine Bestform dürfte er erst im Laufe des Turniers erreichen.

Fragezeichen bei Hummels und Höwedes

Wie lange Mats Hummels noch ausfällt, weiß niemand. Im besten Fall kann der Bald-Münchner im letzten Gruppenspiel gegen Nordirland wieder mitmischen. Läuft es etwas schlechter, dann erst in der K.o.-Runde. Sicher scheint, dass Löw nicht konkret mit Hummels planen kann. Das ist keine neue Erkenntnis, im Zuge der Rüdiger-Verletzung und weil Tah allenfalls eine Art doppelter Boden für den schlimmsten aller Fälle sein dürfte, bekommt diese Tatsache aber eine neue Schärfe.

Zumal, und das erstaunt doch sehr, Mustafi in der ganzen Angelegenheit bisher kaum Erwähnung findet. Der 24-Jährige hat beim FC Valencia keine überragende, aber doch eine sehr ordentliche Saison gespielt. Mustafi stand in beinahe allen Spielen in insgesamt vier Wettbewerben fast immer in der Startelf, immer als Innenverteidiger.

Nur zweimal hatte er mit leichten muskulären Problemen zu kämpfen, ansonsten blieb er als einziger deutscher Innenverteidiger verletzungsfrei. Und er gilt als Musterschüler von Joachim Löw - trotzdem fällt sein Name bei den möglichen Alternativen als Rechtsverteidiger oder Innenverteidiger nur vereinzelt.

Benedikt Höwedes, die Nummer fünf im Bunde, gilt für die rechte Außenbahn als erste Option. Jetzt mehr denn je, da sich Löw bei der Nachnominierung für einen weiteren Innenverteidiger (Tah) und gegen einen Rechtsverteidiger (Sebastian Rudy) entscheiden hat. Was Höwedes auf der Position kann, und was er aber auch nicht kann, hat der letzte Test gegen Ungarn nochmals nachdrücklich gezeigt.

Höwedes wäre mit seiner Erfahrung und seinem Standing innerhalb der Mannschaft eigentlich die logische erste Alternative auf den Platz neben Boateng. Aber auch der Schalker verpasste wegen einer schweren Muskelverletzung beinahe die komplette Rückrunde.

Löw spielt auch auf Zeit

Rüdigers Ausfall birgt durchaus Gefahren. Zwar war der Römer auch nicht über alle Zweifel erhaben. Aber mit ihm konnte Löw planen, er hat ihn mehrfach unter Wettkampfbedingungen gesehen, getestet und für gut genug befunden. Und Rüdiger war wie Mustafi auch in der Rückrunde kaum verletzt und eine Stütze seiner Vereinsmannschaft.

Unter den Top-Nationen dürfte Deutschland mit der wackeligsten Defensive ins Turnier gehen. Zwar haben etwa auch die Franzosen (EM-Aus für Raphael Varane) oder Belgier (EM-Aus für Vincent Kompany) Probleme, in der Summe wie bei der DFB-Auswahl aber nicht. Geheimfavorit England oder die Spanier reisten mit der vollen Truppe an. Der Titelverteidiger kann es sich sogar erlauben, einen Weltklassespieler wie Javi Martinez zu Hause zu lassen.

Joachim Löw hat konservativ gehandelt. Er erwartet diesmal kein Turnier der Urkräfte, sondern einen zweigeteilten Wettbewerb, mit den Gruppenspielen als Auftaktphase und der K.o.-Runde als eigentliches Endturnier. Er muss Zeit gewinnen, um seine Defensivspieler wieder an ihr höchstes Leistungsniveau heranzuführen und in der Endphase des Turniers dann vielleicht die bestmögliche Mannschaft auf dem Feld zu haben. Sofern Deutschland überhaupt so weit kommt.

Jonathan Tah ist dafür eine logische Entscheidung. Dem Leverkusener gehört die Zukunft, er verkörpert den Innenverteidiger moderner Prägung und wird im wahrsten Sinne des Wortes als Absicherung dienen. Das Rüdiger-Problem wurde mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner gelöst. Das Spiel auf Zeit wird ohne Antonio Rüdiger aber nochmals gefährlicher.

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