Nach den Terroranschlägen in Brüssel rückt als mutmaßlicher Drahtzieher der sogenannte "Islamische Staat" in den Fokus. Es mag zynisch klingen, doch die tödlichen Anschläge könnten zugleich die Schwäche der Terrormiliz belegen. Denn die Anzeichen verdichten sich, dass der IS nach militärischen Rückschlägen in Syrien und dem Irak sein Augenmerk wieder auf den Terror in Europa richtet.

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Am Dienstagmorgen explodierten Sprengsätze in der belgischen Hauptstadt. Bei den Terroranschlägen in Brüssel am Flughafen Zaventem und der Metro wurden zahlreiche Menschen getötet und fast 200 verletzt.

Terror in Brüssel als Racheakt des IS für Salah Abdeslam?

Hinter den mörderischen Anschlägen wird ein Racheakt der Terrormiliz "Islamischer Staat" vermutet, nachdem am vergangenen Freitag Salah Abdeslam in Brüssel verhaftet worden war, einer der mutmaßlichen Drahtzieher der Terroranschläge von Paris.

Außerdem, so glaubt Terrorexperte Rolf Tophoven, könnte der IS seine militärische Schwäche in Syrien und dem Irak mit terroristischen Anschlägen zu kompensieren versuchen.


Der sogenannte "Islamische Staat" sieht sich selbst in seinen Hochburgen Mossul und Al-Rakka bedrängt. Die Gebietsverluste sind enorm, der militärische Niedergang der Terrormiliz läuft - auch, weil das Geld ausgeht. Der IS, so scheint es, kämpft bereits um seine Existenz.

Militärische Schwäche führt zu mehr IS-Terror

Folglich wehrt er sich mit asymetrischer Kriegsführung - perfiden Terrorattacken wie nun in Brüssel - da er in der konventionellen Auseinandersetzung mit dem Rücken zur Wand steht.

Luftangriffe der US-geführten Allianz zermürben die Terrormiliz, immer mehr Männer desertieren, die Gegner attackieren von allen Seiten. Dabei wollte der "Islamische Staat" bis Ende 2016 in Syrien und Irak eigentlich ein islamisches Kalifat ausrufen. Doch davon sind die Terroristen weit entfernt.


Immer weniger Männer können für den Kampf an der Front rekrutiert werden. Darauf lasse schließen, dass vermehrt Minderjährige an der Seite von Erwachsenen kämpften, erklärte der US-Außenamtssprecher John Kirby.

Ein Grund: Der Islamische Staat halbierte offenbar die Gehälter seiner Kämpfer. Ende vergangenen Jahres hatte die Terrormiliz diesen Schritt angekündigt. Das berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschrechte.

Ausländische Kämpfer erhalten demnach 400 US-Dollar. Die Löhne der syrischen IS-Anhänger sollen von geschätzt 400 auf 200 US-Dollar gesunken sein. Offiziere sollen nun genau so viel "verdienen" wie einfache Soldaten. Berichten von syrischen Aktivisten zufolge steigt deshalb der Unmut unter den IS-Kämpfern.

Doch nicht nur im Nahen Osten kam der IS zuletzt unter Druck. Die Strategie, Selbstmordattentäter in westliche Gesellschaften einzuschleusen, hatte jüngst einen vermeintlichen Dämpfer erlitten.

Sicherheitsdiensten wurden geheime Personalbögen der IS-Kämpfer zugespielt - angeblich bei Befragungen zurückgekehrter Extremisten. Dem Bundeskriminalamt (BKA) sollen Papiere mit Informationen zu deutschen IS-Kämpfern vorliegen.

Und dennoch: Die Terroranschläge von Brüssel belegen, dass autonome Zellen des "Islamischen Staats" auch weiterhin Attacken planen und durchführen können.

Sieben-Phasen-Modell: In welcher Phase befindet sich der IS?


Die Terrororganisation soll einem Sieben-Stufen-Plan folgen, den er offenbar von Al-Kaida kopierte. Der jordanische Journalist Fouad Hussein schrieb darüber in seinem Buch "The Future of Terrorism: What al-Qaida Really Wants".

Das Ziel: die Weltherrschaft. Phase eins galt als sogenannte Phase des Erwachens. Gemeint war der Angriff auf New York am 11. September 2001.

Des Weiteren sieht der Plan politische Instabilität in der Arabischen Welt vor. Auch das trat ein, ohne Zutun des IS. Aktuell befindet sich dieser in Phase fünf, in der ein islamisches Kalifat ausgerufen werden soll. Diese Phase sollte 2016 enden – eigentlich.

In Phase sechs soll es schließlich zu einer "totalen Konfrontation" kommen, zum Kampf zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Die siebte Phase soll der "totale Sieg" im Jahr 2020 sein.

Terror als verzweifelte "Gegenoffensive" des IS

Doch danach sieht es in Syrien und Irak nicht aus. So grausam und tödlich der Terror in Europa auch ist, könnte er die militärische Schwäche des IS unterstreichen.

Nach amerikanischen Angaben verlor der IS fast die Hälfte der einst von ihm kontrollierten Gebiete im Nahen Osten. Allein im Irak handele es sich dabei mittlerweile um mehr als 40 Prozent seines zwischenzeitlich eroberten Territoriums.

Auch der militärische Branchendienst "IHS Jane’s Conflict Monitor" schilderte, dass die Terrormiliz 2015 große Gebietsverluste erlitten habe. Das Herrschaftsgebiet der Dschihadisten schrumpfte demnach 2015 um etwa 14 Prozent – Tendenz steigend.

US-Verteidigungsminister Ashton B. Carter kündigte an, der Terrormiliz den Todesstoß versetzen zu wollen. Wegen der Luftangriffe können die Extremisten ihre Kämpfer nur nachts und nur in kleiner Truppenstärke bewegen.


Weit über 10.000 IS-Kämpfer sollen getötet worden sein, darunter wichtige Anführer und viele der erfahrensten Kämpfer der ersten Generation. Die beiden Hochburgen Mossul (Irak) und Al-Rakka (Syrien) sind isoliert.

Brüssel: IS verlegt die Front in westliche Städte

Sämtliche Gegenoffensiven des IS laufen ins Leere. Immer weniger Rekruten aus dem Ausland schließen sich der Terrormiliz an. Ein letzter Schlag ist derzeit wohl gar nicht mehr möglich, der IS ist militärisch in die Defensive gedrängt.

Zudem stabilisiert sich die Lage in Syrien gerade durch den Waffenstillstand, was der Strategie des IS entgegenläuft.

Umgekehrt, das zeigen auf dramatische Weise die jüngsten Ereignisse in Brüssel, erhöht der militärische Niedergang die Gefahr von Terroranschlägen, gerade in Europa.

Denn während der "Islamische Staat" auf dem Schlachtfeld das Nachsehen hat, ist er kaum zu bekämpfen, wenn er die Front eines asymetrischen Krieges in westliche Großstädte verlegt.


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