Der Druck auf Angela Merkel wegen ihrer umstrittenen Flüchtlingspolitik wird immer größer. Wird die Regierungschefin Ende des Jahres noch im Amt sein? Der Politologe Carsten Koschmieder blickt auf die nahe Zukunft der Kanzlerin.

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Die Zeiten, in denen Angela Merkel ohne große Widerstände in der eigenen Koalition durchregieren konnte, sind längst vorbei. Ihre Flüchtlingspolitik wurde anfangs noch eher zaghaft, später schon deutlicher und mittlerweile ganz offen und unverblümt in Frage gestellt.

Die schärfste Ablehnung kommt vom kleinen Koalitionspartner CSU, deren Chef Horst Seehofer sogar eine drohende Klage vor dem Bundesverfassungsgericht in Aussicht stellt.

Stoiber-Intimus: 50:50, dass Merkel bis Jahres-Ende weg ist

Aber auch in Merkels eigener Partei rumort es: 44 CDU-Bundestagsabgeordnete fordern in einem offenen Brief eine neue Flüchtlingspolitik. Und selbst in der SPD gehen die ersten auf Distanz zum Kurs der Regierungschefin.

Der Politikberater und Vertraute des früheren bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, Michael Spreng, sagte im Deutschlandfunk, er sehe die Chancen 50:50, dass Merkel am Ende des Jahres nicht mehr als Bundeskanzlerin amtiert.

Carsten Koschmieder von der Freien Universität Berlin teilt diese Einschätzung nicht. "Ich gehe davon aus, dass Merkel Ende des Jahres noch Kanzlerin ist und auch bis zur nächsten Bundestagswahl 2017 weiter regieren wird", sagt der Politikwissenschaftler unserer Redaktion.

Zum einen fehle es der CDU an einer personellen Alternative mit Format. Finanzminister Wolfgang Schäuble komme aufgrund seines Alters allenfalls als Übergangslösung in Betracht.

Zum anderen seien Neuwahlen, unter anderem wegen der schlechten Umfragewerte, nicht im strategischen Interesse der Koalitionsparteien CDU, CSU und SPD, so Koschmieder.

Die SPD habe darüber hinaus mit Blick auf die kommenden Bundestagswahlen kein Interesse daran, frühzeitig einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin Merkels ins Amt zu hieven.

"Am ehesten könnte ich mir noch vorstellen, dass Merkel aus freien Stücken hinschmeißt", sagt Koschmieder. "Aber dafür ist sie eigentlich nicht der Typ."

Kritiker kommen aus der eigenen Reihe

Merkels größtes Problem sind die Kritiker aus der eigenen Partei. Und die werden offenbar immer zahlreicher, wie der von 44 CDU-Bundestagsabgeordneten unterschriebene und am Dienstag zugestellte Brandbrief gezeigt hat. Die Parlamentarier fordern darin eine neue Flüchtlingspolitik.

"Ihre große Stärke war bisher ihre Beliebtheit in der Bevölkerung und ihre Fähigkeit, Wahlen zu gewinnen", erklärt Experte Koschmieder mit Verweis auf die Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt im März.

"Wenn die CDU dort schlecht abschneidet, wird die Zahl der Kritiker weiter zunehmen, aber auch das wird Merkel nicht stürzen."

Der Grund: Die CDU-Vorsitzende kann sich der Unterstützung der Parteispitze für ihren Kurs sicher sein. Der mächtige Kanzleramtschef Peter Altmeier, CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder oder CDU-Vize Julia Klöckner stärken ihrer Chefin stets den Rücken.

Klöckner: "Einfach mal Klappe halten!"

Klöckner empfahl den parteiinternen Kritikern zuletzt auf einer Vorstandssitzung gar, sie sollten "einfach mal die Klappe halten".

Und auch auf die starken CDU-Minister der Regierung – Ursula von der Leyen, Thomas de Maizière und Wolfgang Schäuble – kann sich Merkel im Großen und Ganzen verlassen.

"Die Anti-Merkel-Stimmen kommen eher aus der zweiten Reihe", stellt Koschmieder fest.

Bliebe der Problemfall CSU. Parteichef Horst Seehofer schießt seit Monaten giftige Pfeile aus München in die Berliner Regierungszentrale.

Er liebäugelt gar mit einem Gang vors Bundesverfassungsgericht wegen Merkels Politik der offenen Grenzen, durch die nach seiner Einschätzung Gesetze gebrochen würden.

Zuletzt räumte ein Gutachten des Ex-Verfassungsrichters Udo di Fabio einer solchen Klage gute Chancen ein. Das würde jedoch ziemlich wahrscheinlich das Ende der Koalition bedeuten.

Aber würde die CSU tatsächlich so weit gehen? "Wann hat denn die CSU den größeren Einfluss auf die Berliner Politik?", fragt Carsten Koschmieder. "Natürlich, wenn sie an der Regierung beteiligt ist. Und diesen Einfluss will sie ganz bestimmt nicht verlieren."

Der Parteienforscher hält die verbalen Scharmützel der Christsozialen vor allem für Rhetorik, der Einfluss der CSU solle nicht überschätzt werden.

Merkel sei zwar geschwächt, aber die Kanzlerdämmerung sieht Koschmieder noch lange nicht gekommen.

"Vieles hängt aber davon ab, wie sich die Flüchtlingskrise weiterentwickelt und wie Merkel die kommenden Probleme lösen wird."

Zur Person: Carsten Koschmieder ist Politikwissenschaftler am Otto-Stammer-Zentrum der Freien Universität Berlin.
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