Um bis 2045 klimaneutral zu sein, muss Deutschland sich fast vollständig aus erneuerbarer Energie versorgen. Bundeskanzler Olaf Scholz spricht von einem "Kraftakt", der hierfür nötig sei. Allein die zehn größten Herausforderungen zeigen, dass das wohl noch untertrieben ist.

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Mitte April wurden in Deutschland die letzten drei Kernkraftwerke stillgelegt. Geht es nach dem Fahrplan der Bundesregierung, folgen bis 2030 die westdeutschen Kohlekraftwerke und bis 2038 die ostdeutschen. Bis 2045 soll Deutschland sich dann nahezu vollständig mit erneuerbarer Energie versorgen und in der Bilanz "klimaneutral" sein, also kein zusätzliches CO2 in die Atmosphäre eintragen. Dazu müssen die Emissionen von 746 Millionen Tonnen im Jahr 2022 auf netto null sinken.

In vielen Kommentaren zum Atomausstieg wirkte es so, als sei die Energiewende nicht nur politisch beschlossen, sondern ihr Erfolg bereits garantiert. Doch in Wahrheit ist der Umstieg auf erneuerbare Energien gerade erst am Beginn. Die Zahl der ungelösten Aufgaben ist groß. Dass "ein Kraftakt" nötig ist, wie Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte, ist noch eine Untertreibung.

Der Überblick über die wichtigsten Herausforderungen auf dem Weg zu 100 Prozent erneuerbarer Energie:

1: Jeden Tag fünf neue Windräder und viele weitere Anlagen – sonst bleiben wir auf Kohle angewiesen

Auf den ersten Blick ist Deutschland schon weit gekommen bei den erneuerbaren Energien: Photovoltaik- und Windenergieanlagen decken zusammen mit Biomasse- und Wasserkraftwerken heute fast die Hälfte des deutschen Strombedarfs. Doch bis 2030 sollen es 80 Prozent sein, 2045 dann 100 Prozent. Für diese Ziele genügt das derzeitige Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren nicht. Der jährliche Zubau an Anlagen muss dazu massiv steigen.

Bei der Eröffnung der Hannover-Messe sagte Bundeskanzler Scholz Mitte April, in Deutschland müssten jeden Tag vier bis fünf Windräder sowie Photovoltaikanlagen von der Größe von 40 Fußballfeldern entstehen. Insgesamt muss die neu installierte Leistung bei der Windenergie an Land ab diesem Jahr gegenüber 2022 fast verdreifacht und ab 2025 ungefähr vervierfacht werden. Der jährliche Zubau von Photovoltaik-Leistung muss sich ab 2025 gegenüber 2022 verdreifachen.

Es geht nicht nur darum, den heutigen Strombedarf aus erneuerbaren Quellen zu decken. In wachsendem Maß sollen auch Fahrzeuge und Heizungen mit Strom statt mit Mineralölen betrieben werden. 2022 lag der Stromverbrauch in Deutschland bei 484 Terawattstunden. Für 2030 rechnet die Bundesregierung mit 680 bis 750 Terawattstunden. Die Betreiber der Stromnetze gehen für 2045 sogar von 1.000 Terawattstunden aus. Dafür muss viermal mehr Strom aus erneuerbaren Quellen zur Verfügung stehen als heute.

Größtes Hindernis beim Bau neuer Anlagen ist die Verfügbarkeit von Flächen, vor allem für die Windenergie. Dazu kommen die langen, aufwendigen Genehmigungsverfahren. Die Bundesregierung hat zuletzt mehrere Gesetze verabschiedet, die diese Hürden abbauen sollen.

2: Genügend Fachkräfte ausbilden – sonst bleibt die Arbeit liegen

Wer sich eine Solaranlage aufs Dach setzen lassen möchte, wartet oft Monate auf die Installation. Ein Grund dafür ist der Fachkräftemangel. Rund 216.000 Fachkräfte fehlen in Deutschland für den Ausbau erneuerbarer Energien, heißt es in einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft von Ende 2022. In dieser Zahl sind fehlende Facharbeiterinnen und -arbeiter in 190 Berufen zusammengefasst, die für Solar- und Windenergie wichtig sind, etwa Elektriker, aber auch Ingenieurinnen oder Baufachleute für Planung und Aufbau von Windparks.

Das "Nadelöhr" seien Elektriker, da deren Qualifikation wegen gesetzlicher Regelungen "alternativlos" sei, heißt es in der Studie. Knapp 17.000 Elektrik-Fachkräfte fehlten. Das zunehmende Interesse junger Menschen an diesem Beruf reicht der Studie zufolge nicht aus.

Für die Energiewende im Bereich der Wärmeerzeugung hat der Bundesverband Erneuerbare Energien (BEE) Vorschläge gemacht, um den Fachkräftemangel zu beheben: "Es braucht finanzielle Unterstützung für den Aufbau von Aus- und Weiterbildungskapazitäten", sagt BEE-Geschäftsführer Wolfram Axthelm. "Ausbildungsordnungen müssen an die Energiewende angepasst und Schulungen staatlich unterstützt werden". Weitere Maßnahmen, die diskutiert werden, sind attraktivere Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen, frühzeitiges Recruitung an Schulen und Hochschulen sowie die Anwerbung ausländischer Fachkräfte.

3: Leitungsnetz ausbauen – sonst kommt der Strom nicht ans Ziel

In der alten Energiewelt aus Kohle und Kernkraft erzeugten zentrale Kraftwerke Strom vor allem dort, wo er benötigt wird: nahe den industriellen Verbrauchszentren im Süden und Westen Deutschlands. Das ändert sich nun mit der Energiewende. Denn am meisten Windstrom wird im Norden und Osten des Landes sowie auf dem Meer erzeugt, also fernab der bisherigen Wirtschaftszentren.

Das Stromnetz ist noch lange nicht darauf ausgelegt, große Mengen an Strom von dort in den Süden und Westen zu transportieren. Deshalb hat die Bundesregierung schon vor mehr als zehn Jahren beschlossen, das Stromnetz beschleunigt auszubauen. Die Stromnetzbetreiber haben jetzt in ihrem neuen "Netzentwicklungsplan" den offenen Bedarf beschrieben: Demnach müssen bis 2037 rund 11.000 Kilometer bestehender Leitungen verstärkt und 8.500 Kilometer Stromtrassen neu errichtet werden. Die Gesamtkosten dafür belaufen sich auf 144 Milliarden Euro. Der Ausbauplan soll noch 2023 in Kraft treten.

Bisher gibt es viel zu wenige Fortschritte. Die Planungs- und Genehmigungsverfahren laufen zu langsam, regional halten Widerstände und Klagen die Ertüchtigung des Stromnetzes auf. Landesregierungen tun zu wenig, um die Trassen durchzusetzen. Das verursacht auf zweierlei Weise Kosten, die über die Netzentgelte von den Stromverbrauchern ausgeglichen werden müssen:

  • Die Windrad-Betreiber sind gezwungen, bei Netzengpässen ihre Anlagen zu drosseln. Dafür erhalten sie eine Entschädigung.
  • Zudem müssen im Süden teure Gaskraftwerke einspringen, um das Netz stabil zu halten.

4: Ökostrom im großen Stil speichern – sonst werden Dunkelflauten gefährlich

Für ein Energiesystem, das zu 100 Prozent regenerative Energien nutzt, müssen in großem Stil Speicher zum Einsatz kommen. Denn nicht jede Schwankung wird sich durch eine Anpassung des Strombedarfs von Betrieben und Haushalten oder den Import von Strom ausgleichen lassen. Eine besondere Herausforderung sind sogenannte "kalte Dunkelflauten", also tagelange und flächendeckende Windstille im gleichzeitig sonnenarmen Winter, und das bei hoher Nachfrage nach elektrischer Energie, etwa für Wärmepumpen. Um diese zu überbrücken, braucht es Speicher.

Derzeit reichen meist noch Speicher, die Energie stunden- oder tageweise aufnehmen und wieder abgeben können. Mit dem Anteil des Ökostroms wächst aber der Bedarf für Speicherung von überschüssigem Strom über längere Zeiträume. Die Speicherung kann auf die Folgen Arten erfolgen:

  • mechanisch wie bei Pumpwasserkraftwerken oder Druckluftanlagen
  • elektrisch wie bei Batterien
  • chemisch wie mit Wasserstoff, Methan oder eFuels
  • oder thermisch, zum Beispiel mit dem Schmelzen von Salzen

Der Bedarf an Speicherleistung wird auf rund 100 Gigawatt in den 2030er-Jahren und rund 160 Gigawatt in den 2040er-Jahren geschätzt. Derzeit bieten Pumpspeicherkraftwerke rund 10 Gigawatt, Haushalte rund 2,5 Gigawatt und die Batterien E-Autos rund 60 Gigawatt. Da Autos die meiste Zeit stehen, könnten sie ans Netz gekoppelt werden, um als Puffer zu dienen. E-Autos könnten somit zu einem "virtuellen Kraftwerk" zusammengeschlossen werden, so die Vision. Das geht heute aber noch nicht, denn die Voraussetzungen fehlen, dass Autos Strom wieder in ein Hausnetz oder ins Stromnetz abgeben und dies auch erfasst wird. Das zu ändern, ist dringlich.

Seine Kapazität an Batteriespeichern baut Deutschland mit ansehnlichem Tempo aus. Allein die Privathaushalte haben laut einer Studie von Jan Figgener und seinen Kollegen von der RWTH Aachen im letzten Jahr 145.000 neue Speicher installiert, sodass es jetzt über 500.000 Anlagen gibt. Mit der Kapazität aller Speicher in deutschen Haushalten könnte man rein rechnerisch eine halbe Million Haushalte für einen Tag mit Strom versorgen.

Batteriespeicher allein eignen sich jedoch nicht, um die Energiemengen für tage- oder wochenlange Dunkelflauten vorzuhalten. Sie sind darauf ausgelegt, Energie schnell zu speichern und schnell wieder abzugeben. Um elektrische Energie länger zu speichern, taugen etwa Pumpspeicherkraftwerke oder sogenannte Power-to-Gas-Verfahren, bei denen überschüssiger regenerativer Strom benutzt wird, um per Elektrolyse aus Wasser brennbares Gas zu erzeugen, etwa Wasserstoff oder Methan.

Damit ließen sich Gaskraftwerke betreiben, die dann aber auch vorgehalten werden müssten. Laut einer Studie von Brainpool Energy von 2017 würde das mit etwa 12 Prozent der Kosten des Gesamtsystems und mit 5,7 Cent pro Kilowattstunde zum Strompreis beitragen. Die Ampelregierung fördert bereits, dass Gaskraftwerke technisch so umgebaut werden, dass sie Wasserstoff verbrennen können und dass neue Anlagen "wasserstoff-ready" sind. Schon bis 2027 soll laut Erneuerbare-Energien-Gesetz eine Leistung von 4,4 Gigawatt installiert werden, was der von vier Atomkraftwerken entspricht.

5: Wärme erneuerbar erzeugen – sonst gibt es keine Klimaneutralität

Bei den Diskussionen zur Energiewende geht es meist um Strom. Doch Strom macht derzeit nur ein Fünftel des deutschen Energieverbrauchs aus. Mehr als die Hälfte der Energie wird dafür eingesetzt, Wärme zu erzeugen – also zum Heizen von Gebäuden und für industrielle Prozesse. Dabei werden noch immer zu 83 Prozent die fossilen Energieträger Erdöl, Erdgas und Kohle verwendet, mit entsprechendem CO2-Ausstoß. Unter den erneuerbaren Wärmequellen überwiegt Holz, die Solarthermie hat zum Beispiel nur einen Anteil von fünf Prozent an der Wärmeproduktion.

Die meisten Deutschen heizen in ihren Wohnungen und Häusern weiterhin fossil: Öl und Gas sorgen in fast drei Viertel der Wohnungen für Wärme. Das muss sich in den kommenden Jahren drastisch ändern, soll die Wärmeversorgung wie von der Bundesregierung geplant bis 2050 klimaneutral sein. Die "Energiewende" ist also im Kern eine "Wärmewende" – und eine riesige Herausforderung: Mehr als die Hälfte der deutschen Immobilien sind schlecht saniert. Sie liegen unterhalb der als minimal geltenden Effizienzklasse D. Mehrere Millionen Gebäude müssen also energieeffizienter und mit regenerativer Energie beheizt werden. In der Industrie soll als Wärmequelle künftig vorwiegend "grüner Wasserstoff" zum Einsatz kommen. Dieser wird mithilfe von erneuerbarem Strom erzeugt.

Technische Lösungen für die "Wärmewende" sind für Gebäude vor allem Wärmepumpen, Geothermie, Solarthermieanlagen und Fernwärme. Doch die Erneuerung der Heizanlagen läuft viel zu langsam. 2022 wurden zum Beispiel knapp 240.000 neue Wärmepumpen installiert. Nötig sind aber Jahr für Jahr mindestens 500.000 Neugeräte, um die Gesamtzahl von rund 1,4 Millionen Geräten heute bis zur Mitte des Jahrhunderts auf die nötigen 16 Millionen zu steigern. Auch die energetische Sanierung von Gebäuden läuft bislang zu schleppend, nur ein Prozent des Bestandes wird pro Jahr saniert.

Die Bundesregierung hat nun einen Gesetzentwurf beschlossen, dem zufolge ab dem 1. Januar 2024 jede neu eingebaute Heizung zu 65 Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben werden muss. Dabei gibt es aber viele Ausnahmen.

Um die Wärmewende zu beschleunigen, schlägt das Wuppertal-Institut eine "Mischung aus Fordern und Fördern" vor. Gezielte ordnungspolitische Maßnahmen, etwa ein schrittweises Verbot alter Öl- und Gasheizungen bis 2035, müssten von einer darauf zugeschnittenen Förderung flankiert werden. Dazu schlägt das Institut ein Förderprogramm für 12 Millionen Wärmepumpen und 70 Millionen Quadratmeter Solarthermieanlagen vor.

6: Verkehrspolitik grundsätzlich verändern – sonst sind die Klimaziele nicht zu erreichen

Der Verkehr trägt mit 148 Millionen Tonnen massiv zum CO2-Ausstoß bei. Im Gegensatz zu anderen Bereichen der Gesellschaft, zum Beispiel der Industrie, sind die Emissionen durch Autos und Lastwagen in den vergangenen Jahren kaum gesunken. Einsparungen durch bessere Technik wurden dadurch zunichtegemacht, dass die Fahrzeuge schwerer wurden und die gefahrenen Kilometer stark zugenommen haben.

Der Verkehr macht rund ein Fünftel des deutschen CO2-Ausstoßes aus – und muss nun binnen 20 Jahren klimaneutral werden. Bisher hat aber noch keine Bundesregierung grundlegende Veränderungen in der Verkehrspolitik in Angriff genommen. Das Auto bleibt weiter im Zentrum der Verkehrspolitik, während das Angebot auf der Schiene unter einem massiven Investitionsmangel leidet, der Güterverkehr stagniert und in den Städten Menschen, die zu Fuß gehen oder das Rad nutzen, strukturell benachteiligt und in Gefahr gebracht werden.

Auch die Ampelkoalition vermeidet grundlegende Veränderungen gerade – sie will das Verkehrsministerium von spezifischen Klimazielen entbinden und es ermöglichen, dass Reduktionsanstrengungen weiter verschoben werden. Zudem wird der Kurs verfolgt, dass sich beim Verkehr nur der Antrieb ändern soll, dass also statt Verbrennermotoren Elektrofahrzeuge genutzt werden. Von heute einer Million soll die Zahl der E-Autos bis 2030 auf 15 Millionen steigen, was dann immer noch weniger als einem Drittel des Fahrzeugbestands entspricht.

Das Umweltbundesamt fordert tiefergehende Veränderungen, um rasch eine Reduktion der Verkehrsemissionen einzuleiten: Dazu gehören ein Tempolimit auf Autobahnen, die Abschaffung von Steuerprivilegien und eine stärkere Bepreisung von CO2-Emissionen. Besondere Bedeutung hat dem UBA zufolge der Umbau von Städten, sodass es für klimaneutrales Radfahren und Zufußgehen eine sichere Infrastruktur gibt. Nötig sind auch viel höhere Investitionen in den Nah- und Fernverkehr und den Güterverkehr auf der Schiene als bisher geplant.

Wichtig ist auch eine umfassende Bepreisung des CO2-Ausstoßes aus dem Verkehr. Zwar gibt es in Deutschland bereits ein Handelssystem für sogenannte CO2-Zertifikate, bei dem jede ausgestoßene Tonne bezahlt werden muss; in der EU wird ein solches System demnächst eingeführt. Noch ist der Effekt aber gering, weil der Preis pro Tonne fixiert ist und später gedeckelt bleiben soll. Eine echte Lenkungswirkung könnte nur eine freie Preisbildung haben.

Technisch herausfordernd ist vor allem die Klimaneutralität von schweren LKWs und von Flugzeugen. Hier könnten bei LKWs Wasserstoffantriebe und bei Flugzeugen synthetische Treibstoffe die zentrale Rolle spielen. Ohne grundlegende Veränderungen bei der Mobilität wird es nicht möglich sein, das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen.

7: Biodiversität schützen – sonst verschärfen wir die zweite große Umweltkrise

In den Debatten darüber, warum der Ausbau erneuerbarer Energien zu langsam verläuft, wird die Schuld häufig auf den Naturschutz geschoben. Denn in Genehmigungsverfahren müssen bisher Abstände zu Schutzgebieten und die Auswirkung etwa von Windenergieanlagen auf bestimmte Vogelarten und Fledermäuse geprüft werden. Die Ampelkoalition und die EU-Kommission haben deshalb in den vergangenen Monaten mit Verweis auf die aktuelle Spannungslage in der Energieversorgung Schutzstandards aufgeweicht und zum Beispiel die Liste der Vogelarten, deren Gefährdung überprüft werden muss, gekürzt.

Dieses Vorgehen ist fragwürdig. Denn der Rückgang der Biodiversität ist in seinem Ausmaß und seinen Folgen im Urteil von Weltklima- und Weltbiodiversitätsrat mit der Klimakrise vergleichbar. Zudem lassen sich Konflikte auch dadurch entschärfen, dass Windenergieanlagen nicht flächendeckend verstreut errichtet werden, sondern gebündelt möglichst abseits von Schutzgebieten. Dafür bräuchte es auch die Bereitschaft, dass die Anlagen näher an Orten entstehen. Bei Solaranlagen gibt es bereits gute Beispiele, wie auf den Flächen artenreiche Magerrasen entstehen können – oder Obst und Gemüse angebaut wird, sodass der Flächenbedarf schrumpft.

Wichtig wäre auch, dass unvermeidliche Schäden für die Natur an anderer Stelle durch intensiveren Naturschutz ausgeglichen werden. So meiden einer neuen Untersuchung zufolge zum Beispiel Seetaucher die Areale rund um Offshore-Windenergieanlagen. Das ist einerseits positiv, weil sie dann nicht direkt zu Schaden kommen können. Doch durch die Offshore-Windparks schrumpfen die Nahrungsgründe von Pracht- und Sterntauchern, zwei Vogelarten, für deren Schutz Deutschland eine besondere Verantwortung trägt.

Zum einen sollten neue Windparks nicht in Schutzgebieten, sondern entlang von Schiffsstrecken entstehen, fordern Experten. Zum anderen sollten, um die Schäden durch die Expansion erneuerbarer Energien auszugleichen, Schutzanstrengungen in anderen Bereichen deutlich intensiviert werden – auf der Nordsee zum Beispiel durch ein Verbot der Stellnetzfischerei und des Sand- und Kiesabbaus in Schutzgebieten.

8: Wind- und Solaranlagen wieder selbst herstellen – sonst sind wir durch China erpressbar

Bis vor relativ kurzer Zeit existierte in Deutschland eine eigene, starke Industriebranche zur Fertigung von Solaranlagen und Windrädern. In Sachsen-Anhalt zum Beispiel gab es das "Solar Valley" mit großen Herstellern mit mehr als 3.000 Arbeitsplätzen. Entlang der Küsten entstanden Zehntausende Arbeitsplätze in der Fertigung von Windanlagen. Doch von diesem Erneuerbare-Energien-Boom ist wenig übrig geblieben. Branchenführer Q-Cells stellte 2015 die Massenfertigung von Solarzellen ein, andere Unternehmen gingen pleite. In der Windbranche schloss 2022 in Rostock der letzte Fertigungsbetrieb für Rotorblätter. Eigentümer Nordex verlagerte die Produktion nach Indien.

Hintergrund ist in beiden Fällen, dass die Fertigung in Asien deutlich billiger ist als in Deutschland. Während aber etwa in der Kohleindustrie oder auch bei der Kaufhaus-Kette Karstadt der Staat über Jahrzehnte immer wieder schnell interveniert hat, um Arbeitsplätze zu retten, blieben entsprechende Bemühungen in der Erneuerbare-Energien-Branche weitgehend aus. Trotz der wachsenden Bedeutung erneuerbarer Energien ist die Zahl der Arbeitsplätze in der Branche nach Angaben des Umweltbundesamts von 416.000 im Jahr 2011 auf 344.000 im Jahr 2021 geschrumpft.

Auch wenn es betriebswirtschaftlich logisch erscheint, Solarzellen und Windrotoren an den billigsten Standorten zu produzieren, ist durch die Abwanderung nun ein erhebliches geopolitisches und ökonomisches Risiko entstanden. Da die Zukunft der Industrienation Deutschland an erneuerbaren Energien hängt, hat zum Beispiel China durch mögliche Exportbegrenzungen für Solarzellen ein erhebliches Erpressungspotenzial. Von dem könnte das Land in der angespannten Weltlage durchaus Gebrauch machen wollen, und sei es nur in Form von Andeutungen bei Verhandlungen. Zuletzt hat die Abhängigkeit von Russland bei Erdgaslieferungen gezeigt, wie gefährlich Abhängigkeiten im Energiebereich sind. Selbst die USA müssen sich nicht dauerhaft kooperativ verhalten.

Die Herausforderung für die Bundesregierung und die EU-Kommission ist also, wie viel aktive Industriepolitik man künftig im Bereich Erneuerbare Energien betreiben will, um erhebliche Kapazitäten für alle Komponenten der Energiewende in Europa vorzuhalten. Die aktuelle Weltlage spricht dafür, hier deutlich aktiver zu sein als in den vergangenen Jahren – und die Neugründungen in kleinerem Umfang, die es zum Beispiel im "Solar Valley" durchaus gibt, gut zu pflegen.

9: Windräder und Solaranlagen recyceln – sonst droht ein Abfallberg

Für Wind- und Photovoltaikanlagen ebenso wie etwa für Batterien oder Stromleitungen braucht die Energiewende enorme Mengen an Rohstoffen und Vorprodukten. Dazu zählen etwa Stahl, Glas und Kunststoffe sowie wertvolle Elemente wie Silizium, Kupfer, Kobalt, Lithium oder Seltene Erden.

So wiegt ein einziger Rotor einer Windanlage rund 25 Tonnen. Manche dieser Materialien könnten zum Nadelöhr für den Umbau des Energiesystems werden: weil sie knapp sind, mit zunehmender Nachfrage sehr teuer werden und geopolitisch heikle Abhängigkeiten schaffen, vor allem von China, aber auch von Ländern in Südamerika. Zu beachten ist auch, dass der Rohstoffabbau oft ein schmutziges Geschäft ist, das mit der Zerstörung von Ökosystemen und mitunter mit menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen einhergeht. Derzeit wird der Tiefseebergbau auch mit dem Argument vorbereitet, es brauche Rohstoffe für die globale Energiewende.

Umso wichtiger ist es, durch Innovationen bei der Fertigung den Bedarf an Roh- und Grundstoffen zu reduzieren. Neue Materialien und Bauweisen können dazu beitragen. Zudem ist es wichtig, ausgediente Anlagen und Systeme so weit wie möglich zu recyceln. Bei vielen Metallen und Bauteilen von Wind- und Solaranlagen ist die Recyclingquote schon heute bei über 90 Prozent. Noch nicht flächendeckend umgesetzt ist dagegen das Recycling der Rotoren von Windanlagen, die meistens aus Verbundkunststoffen bestehen, und von Silizium-Bauteilen der Photovoltaik.

Dem Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ist es 2022 gelungen, Photovoltaikmodule aus recyceltem Silizium herzustellen. Für die Rotoren gibt es Verfahren, sie zu zerkleinern und ihre Kunststoffe zum Beispiel im Zement für neue Fundamente für Windanlagen einzusetzen. Zudem wird daran gearbeitet, Materialien einzusetzen, die sich stofflich wiederverwerten lassen. Hersteller arbeiten ebenfalls mit Hochdruck am Recycling. Die Verfahren müssen erst noch konsequent eingesetzt werden. Dafür braucht es die entsprechende Infrastruktur.

Auch das Recycling der Batterien von Elektroautos steckt noch in den Kinderschuhen. Es gibt durchaus Verfahren, mit denen sich auch die nur in recht geringer Menge enthaltenen, aber sehr wertvollen Rohstoffe wie Kobalt, Nickel oder Mangan in hoher Reinheit rückgewinnen lassen. Aber noch gibt es erst einzelne Pilotanlagen. Wird das Recycling nicht flächendeckend eingeführt, drohen in Zukunft riesige Abfallmengen aus der Energiewende. Das Umweltbundesamt rechnet ab 2030 allein mit 50.000 Tonnen jährlich an ausrangierten Rotorblättern und fordert technische Normen für das Recycling von Erneuerbare-Energien-Anlagen.

10: Energieverbrauch an Erzeugung anpassen – sonst wird das Stromnetz überlastet

Anders als Gas- und Kohlekraftwerke erzeugen Windenergie- und Photovoltaik-Anlagen Strom nicht genau dann, wenn er benötigt wird – sondern wenn es das Wetter so will. Im Stromnetz müssen Erzeugung und Verbrauch aber stets in der Balance sein. Je höher der Anteil erneuerbarer Energien steigt, desto wichtiger wird es, Angebot und Nachfrage jederzeit ausgleichen zu können. Ansonsten besteht das Risiko, dass es regional zu Strommangel kommt oder sogar das Stromnetz kollabiert.

Wichtige Werkzeuge dafür, Erzeugung und Verbrauch im Gleichgewicht zu halten, sind die Steuerungszentralen der Stromnetzbetreiber, der Stromaustausch zwischen den europäischen Staaten sowie der Bau von Stromspeichern (siehe Punkt 4).

Großer Handlungsbedarf besteht bei der sogenannten Lastverschiebung. Das bedeutet, Strom bevorzugt dann zu verbrauchen, wenn viel davon verfügbar ist. Dafür gibt es zahlreiche Ansatzpunkte. Elektroautos zum Beispiel müssen nicht sofort nach Verbinden mit der Wallbox geladen werden – das kann auch nachts geschehen, wenn der allgemeine Verbrauch niedrig ist. Wärmepumpen können bei viel Wind Wärme quasi auf Vorrat produzieren, Wassertanks oder der Estrich dienen ihnen als Speicher. Auch die Industrie hat viele Möglichkeiten zur Lastverschiebung, etwa beim Timing, wann besonders energieintensive Verfahren zum Einsatz kommen.

Damit die Lastenverschiebung sich durchsetzt, braucht es dynamische Stromtarife. Diese belohnen es, den Strom- und Wärmeverbrauch am Energieangebot auszurichten und in Zeiten eines hohen Angebots zu legen. Die Preise variieren dabei im Viertelstunden- oder Stundentakt. Je mehr Grünstrom verfügbar ist, desto günstiger ist die Energie.

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Ausblick: Wie viel Verschwendung will sich die Gesellschaft leisten?

Diese zehn Herausforderungen – und weitere, etwa in der Energieforschung – müssen bewältigt werden, damit Deutschland seiner Verantwortung für den Klimaschutz gerecht werden kann. Es sind aber nicht nur technische Fragen, um die es geht. Die Bevölkerung muss mitmachen, bereit sein, zum Beispiel Heizungen rasch zu modernisieren – sonst steigt der Druck auf die Regierung, noch viel härtere Regeln aufzustellen als heute. Der Staat braucht die Kraft, die Interessen der jungen Generation zu vertreten, mit Not-in-my-Backyard-Protest umzugehen und zugleich mit Kritikern nach gemeinsamen Wegen zu suchen, etwa mit Naturschutzorganisationen.

Mit am wichtigsten ist die Frage, wie viel Verbrauch und Verschwendung sich die Gesellschaft weiter leisten will, wo die ökologischen Risiken so groß sind und die Klimakrise durch Wassermangel in weiten Teilen Europas bereits greifbar wird.

Die meisten Debatten drehen sich bisher darum, den vorhandenen oder sogar einen wachsenden Energiebedarf einfach zu decken. Geht es nicht auch anders? Die Ukrainekrise hat zumindest gezeigt, dass Sparen möglich ist. Der durchschnittliche Stromverbrauch ist 2022 gegenüber dem Vorjahr um zwölf Prozent gesunken. Die Logik ist simpel: Jede Kilowattstunde, die nicht verbraucht wird, muss auch nicht erzeugt werden. Deshalb lautet die Grundregel der Energiewende: Je weniger Strom benötigt wird, desto einfacher wird es, den Bedarf aus erneuerbaren Quellen zu decken.

Verwendete Quellen:

  • Institut der Deutschen Wirtschaft: KOFA-STUDIE 03/2022: Energie aus Wind und Sonne - Welche Fachkräfte brauchen wir?
  • Netzentwicklungsplan Strom: Netzentwicklungsplan 2037/2045 (2023)
  • MDR Wissen: Stromspeicher: Speicherkapazität in Deutschland steigt deutlich
  • Energy Brainpool: Kalte Dunkelflaute: Robustheit des Stromsystems bei Extremwetter
  • Wuppertal Institut: Vollständig erneuerbare Gebäudewärme bis 2035 machbar
  • Umweltbundesamt: Indikator: Beschäftigte im Bereich Erneuerbare Energien
  • Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme: PERC-Solarzellen aus 100 Prozent recyceltem Silizium
  • Fraunhofer-Institut für Windenergiesysteme: Fraunhofer IWES entwickelt konkrete Konzepte fürs Rotorblatt-Recycling
Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

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