• Selbst Putin-Kenner und Osteuropa-Experten haben den Krieg in der Ukraine mit all seiner Brutalität nicht vorhergesehen.
  • Wie es nun weitergehen könnte, wo Hoffnung besteht und wie folgenreich der Krieg für uns alle ist, erklärt die Historikerin Susanne Schattenberg.

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Der Krieg Russlands gegen die Ukraine zwingt Millionen Menschen zur Flucht, Städte werden zerstört, Menschen leiden und sterben. Der Krieg ist zugleich eine Zeitenwende für das Leben in Europa und darüber hinaus.

Noch ist es schwer, das Geschehen zu erfassen. Im Interview hilft die Expertin Susanne Schattenberg, die Ereignisse einzuordnen. Sie ist Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bremen sowie seit 2008 Direktorin der dort angesiedelten Forschungsstelle Osteuropa. Dieses Institut wurde 1982 inmitten des Kalten Kriegs gegründet und erforscht Umbrüche und aktuelle Entwicklungen in der post-sowjetischen Region.

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Frau Prof. Schattenberg, was haben Sie empfunden, als Sie von der Invasion Russlands in der Ukraine erfahren haben?

Ich war und bin immer noch fassungslos. Wir befinden uns in einem neuen Zeitalter, von dem aber nicht klar ist, ob es nicht eigentlich 2014 mit der Annexion der Krim begann. Krieg als Mittel, um Grenzen zu verschieben, schien in Europa geächtet und der Vergangenheit anzugehören. Dass ein Staat behauptet, ein anderer souveräner Staat sei in Wahrheit ein Teil von ihm und habe kein Existenzrecht, schien es nur in wirren Köpfen von deutschen Rechtsextremen zu geben – aber als reale Politik erschien das unvorstellbar.

"Wohl keiner ist auf die Idee gekommen, Putin könnte so weit gehen"

Haben Sie vor dem 24. Februar 2022 mit einem Krieg dieser Dimension gerechnet?

Nein, ich war der Meinung, dass Putin seiner Bevölkerung einen solchen Krieg nicht würde vermitteln können, weil die Russinnen und Russen in ihrer großen Mehrheit Krieg ablehnen. Die Gefahr, dass es zu Protesten der Soldatenmütter kommt, schien viel zu groß.

Es ist wohl keiner auf die Idee gekommen, Putin könnte in seinem Propagandakrieg so weit gehen, diesen Krieg "Militäroperation" und den Angriff "Befreiung" zu nennen und seine Bevölkerung so sehr von allen unabhängigen Informationen abschneiden, dass sie dies nicht verifizieren kann. Immer noch unfassbar erscheint, dass den russischen Soldaten offenbar die Mobiltelefone abgenommen wurden, so dass nicht mal ihre Verwandten wissen, dass oder ob sie sich im Krieg befinden oder gar schon in Gefangenschaft oder gefallen sind.

Das Komitee der Soldatenmütter wird von Anfragen von Verwandten überschüttet, die wissen wollen, wo ihre Männer sind. Putin führt also nicht nur einen Krieg mit Waffengewalt gegen die Ukraine, sondern mit Propaganda und Informationsblockade gegen seine eigene Bevölkerung.

Welches Ereignis der vergangenen Tage hat sich besonders in Ihr Gedächtnis eingeprägt?

Präsident Selenskij im olivgrünen Soldaten-T-Shirt, der sich vor seine Bevölkerung stellt und diese zum Widerstand aufruft. Er macht derzeit alles richtig.

Wird die russische Bevölkerung aufstehen?

Welche Frage zum Krieg beschäftigt Sie derzeit am meisten?

Wie er ausgehen wird und welche Konsequenzen das haben wird. Derzeit scheint es kein realistisches Szenario zu geben, wie die westliche Diplomatie einen Ausweg auch nur aufzeigen könnte. Die EU und NATO können nur noch mit Waffen und humanitärer Hilfe helfen. Den Krieg beenden kann nur das ukrainische Militär durch einen Sieg oder die russische Bevölkerung: sei es durch Massendemonstrationen angesichts der massiven Sanktionen, die ihr Leben schon jetzt erheblich erschweren, sei es, indem der Sicherheitsrat Putin absetzt. Eine dritte Möglichkeit: Die Duma bittet Putin im Namen des russischen Volks, den Krieg zu beenden.

Welcher Aspekt des Kriegs oder seiner Vorgeschichte verdient mehr Beachtung?

Ich glaube, wir alle außerhalb Russlands haben noch nicht ausreichend verstanden, wie gut die russische Propaganda von der "Spezialoperation zur Befreiung der Ukraine" funktioniert. Die Fernsehbilder, präsentiert von professionellen Reporterinnen und Nachrichtensprechern, sind zu überzeugend, als dass man sie so einfach in Frage stellen würde, wenn man nicht massiv Zweifel hat beziehungsweise ausreichend andere Informationsquellen, die aber bereits seit 2021 systematisch abgeschaltet werden. Auch die Logik von Putins verquerer Geschichtsdeutung ist nicht genügend beachtet worden. Es hilft nicht, das alles als absurd abzutun, wenn er darauf seine Politik und nun einen Angriffskrieg aufbaut.

Was hat Sie am bisherigen Verlauf des Kriegs am meisten überrascht?

Die Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Armee. Nicht nur Putin hatte offenbar mit deren schnellen Zusammenbruch gerechnet. Auch deutsche Offiziere gaben ihr 24 Stunden oder drei Tage. Es ist zudem überaus beeindruckend, wie der Krieg die Ukraine zusammenschweißt.

Wie sollte dieser Krieg genannt werden?

Putins Angriffskrieg.

"Putin möchte sowjetische Großmacht wieder auferstehen lassen"

Wie hilft Ihnen Ihre bisherige Beschäftigung mit Osteuropa dabei, das Kriegsgeschehen zu verstehen?

Es hilft mir, Putins Geschichtskonstrukte auseinanderzunehmen, aber auch seine Außenpolitik einzuordnen. Was heute passiert, ließe sich nicht ohne den Zusammenbruch der Sowjetunion erklären beziehungsweise wäre so nie passiert.

Was motiviert Wladimir Putin zu seinem derzeitigen Kurs?

Er möchte die sowjetische Großmacht wieder auferstehen lassen, um die Schmach des Zusammenbruchs der Sowjetunion zu kompensieren. Außenpolitisch möchte er wieder gefürchtet sein, innenpolitisch möchte er seine Bevölkerung vor jedem Experiment mit Demokratie abschrecken. Als Ersatz möchte er ihr die Wiedervereinigung mit den Ukrainerinnen und Ukrainern bieten.

Wo schätzt der Westen Russland und Wladimir Putin falsch ein?

Offenbar immer wieder in dem, was er zu tun und riskieren bereit ist. Zu oft ist er nach Maßstäben gemessen worden, die nur für demokratische Politiker Aussagekraft haben.

Sollten westliche Länder die Ukraine stärker unterstützen?

Mehr Optionen als Waffenlieferungen und humanitäre Hilfe gibt es nicht mehr.

Frieden: Gewissheit wurde zerstört

Was hätte der Westen in den vergangenen Jahren anders machen müssen, was sollte sich jetzt grundsätzlich ändern?

Putins Außenpolitik anders einschätzen und die große Abhängigkeit von russischem Gas und Öl nicht zulassen. Beides muss und wird derzeit neubewertet.

Wie hat der Krieg Ihr Leben und Ihren Blick auf die Welt verändert?

Er hat grundlegende Gewissheiten, dass wir in Europa in einem Zeitalter des Friedens leben, zerstört.

Was hilft Ihnen dabei, die Ereignisse persönlich zu bewältigen?

Mit anderen darüber zu sprechen und den Menschen in der Ukraine beziehungsweise den Geflüchteten zu helfen.

Was ist derzeit Ihr pessimistischstes Szenario, wie der Krieg weitergeht und endet?

Putin siegt militärisch und installiert eine Marionettenregierung in der Ukraine.

Was ist derzeit Ihr optimistischstes Szenario?

Die ukrainische Armee siegt und Putin wird abgesetzt.

Was macht Ihnen am meisten Angst, was am meisten Hoffnung?

Angst: Der Einsatz von Atomwaffen. Hoffnung: dass die ukrainische Armee das Land weiter verteidigt.

Wie könnte dieser Krieg unser Leben langfristig verändern?

Ich glaube, dass uns weder bewusst, noch zur Zeit zu erahnen ist, wie grundsätzlich unser Leben durch diesen Krieg mittel- und langfristig verändert wird: die Außen- und Sicherheitspolitik, die Energiepolitik, unser Energie-Konsumverhalten und vieles mehr.

Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

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