• Ronja von Wurmb-Seibel ist Journalistin - und liest seit Jahren weder Zeitungen, noch schaut sie klassische Nachrichten.
  • In ihrem gerade erschienenen Buch "Wie wir die Welt sehen" schreibt sie darüber, was mit unserem Denken passiert, wenn wir nur schlechte Nachrichten konsumieren und welche Alternativen es gibt.
  • Ein Gespräch über prätraumatische Belastungen, Putins Atomwaffen und Privilegien - und wie es uns gelingen kann, den Mut nicht zu verlieren.
Ein Interview

Wie hängen Ihrer Meinung nach unser Wohlbefinden und der Konsum von Nachrichten zusammen?

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Ronja von Wurmb-Seibel: Wenn wir negative Nachrichten schauen, kann das Gefühle von Angst, Panik, aber auch Ohnmacht auslösen. Dieses Phänomen nennt man auch angelernte Hilflosigkeit – wir fühlen uns machtlos, obwohl wir es gar nicht sind. Diese Hilflosigkeit breitet sich auch auf andere Bereiche aus, das Privatleben oder den Beruf. Studien nach dem 11. September 2001 haben gezeigt, dass es sogar zu einer sogenannten prätraumatische Belastung kommen kann, wenn man zu viele schlechte Nachrichten sieht: Menschen entwickeln Symptome einer Traumatisierung, obwohl das Ereignis - etwa ein Terroranschlag oder ein Weltkrieg - noch gar nicht passiert ist und sehr wahrscheinlich auch nie passieren wird.

Was macht das mit unserem Blick auf die Welt?

Zum Beispiel könnten wir nach starkem Konsum schlechter Nachrichten die folgenden Glaubenssätze ableiten – und zwar ohne, dass wir es merken: "Die Welt ist schlecht und ich kann nichts daran ändern", "Menschen helfen einander nicht", "Gewalt gewinnt immer" oder "Am Ende geht eh alles kaputt". Glaubenssätze sind Sätze, die wir bewusst oder unbewusst in unserem Kopf haben und die auf viele unserer Entscheidungen Einfluss nehmen können. Angefangen bei: Wohin fahren wir in den Urlaub, welche Versicherungen schließen wir ab bis hin zu wie erziehe ich meine Kinder oder bekomme ich überhaupt Kinder? Das funktioniert nach dem Muster: Wir glauben an etwas, dann sehen wir es bestätigt, dann glauben wir noch mehr daran und sehen es noch mehr bestätigt – eine selbsterfüllende Prophezeiung. Das können Medien beschleunigen.

"Ich habe schnell gemerkt, dass es mich kaputt macht, nur darauf zu schauen, was alles schief läuft"

Sie selbst sind Journalistin – und lesen seit einiger Zeit keine Zeitung, keine Nachrichten – zumindest nicht im "klassischen Sinne". Wie kam es dazu?

Zuerst dachte ich, es ist eine Art Charakterschwäche, dass ich mich schlecht und hilflos fühle, wenn ich Nachrichten sehe. Ich dachte, dass ich es mir zu sehr zu Herzen nehme. Erst nachdem ich aufgehört habe, klassische Nachrichten und Zeitungen zu konsumieren, habe ich die angesprochenen Studien gefunden. Und gesehen: So geht es vielen anderen Menschen auch. Ich bin Reporterin und habe für zwei Jahre in Kabul, Afghanistan gelebt. Ich war damals von sehr vielen schlechten Nachrichten umgeben. Ich habe schnell gemerkt, dass es mich kaputt macht, nur darauf zu schauen, was alles schief läuft. Dann habe ich – mehr aus Selbstschutz – aufgehört, nur über die Missstände zu schreiben und zusätzlich zu berichten, was Leute bereits tun, um die Situation zu verbessern. Um einen kleinen Ansatz von Hoffnung mitzuliefern. Das hat mir auch gut getan.

Über Ihre Zeit in Afghanistan schreiben Sie auch, wie Sie nach einem Bombenangriff fieberhaft nach Nachrichten gesucht haben. Da heißt es, dass die Dinge in Ihrem Kopf gefährlicher geworden sind als die Dinge um Sie herum.

In meiner Zeit in Kabul war manchmal Raketenbeschuss, es gab immer wieder auch Selbstmordattentate. Ich war zum Glück selbst nie vor Ort, aber es gab häufig Anschläge in meiner Nachbarschaft. Wir haben das gehört oder spürten die Druckwelle. Danach hatte ich immer den Reflex, nach Nachrichten dazu zu suchen - oft eine Stunde oder länger. Hinterher hatte ich das Gefühl, dass die ganze Stadt voller Anschläge ist. Ich habe damals gemerkt, was das Einzige war, das mir in diesen Situationen half: Nachrichten weg, Handy weg, runterkommen und sich klarmachen, dass es zwar eine Gefahr gibt, sie aber durch den intensiven Nachrichtenkonsum überproportional groß geworden ist.

Wie informieren Sie sich heute über das Weltgeschehen?

Ich habe das Gefühl, heute besser informiert zu sein als früher. Ich lese viele Hintergrundstücke und Sachbücher, etwa zur Klimakrise, Rassismus oder sozialen Ungleichheit. Diese Themen ändern sich nicht von heute auf morgen, sondern sind dauerhaft präsent. Ich lese auch über aktuelle Geschehnisse. Aber nur Ausgewähltes – ich ziehe mir das nicht geballt rein. Dabei versuche ich auch selbst zu entscheiden, welche Themen ich relevant finde. Keine Nachrichten zu lesen, ist eine Entscheidung, die ich privat getroffen habe. Meine Empfehlung ist es aber, in akuten Phasen – so wie gerade – darauf zu achten, dass Nachrichten nicht den Alltag durchlöchern.

Sie schreiben dazu: "Es ist möglich, politisch informiert zu bleiben, ohne ständig niedergeschlagen zu sein." Wie schafft man das?

Es geht erst einmal darum zu beobachten: Wie und wie viel konsumiere ich – und fühle ich mich gut damit? Wenn die Antwort Nein lautet, ist ein erster Schritt, weniger zu konsumieren. Wer zum Beispiel Push-Nachrichten auf dem Handy hat, hat immer ein gewisses Alarm-Gefühl und Alarm-Signale, die zu ihm kommen. Anstatt also immer wieder Nachrichten zu lesen, kann man sich auch ein-, zwei- oder dreimal am Tag Zeit nehmen und dann gebündelt 20 oder 30 Minuten investieren. Und dann den Rest des Tages abschalten. Ich rate dazu, nach Nachrichten Ausschau zu halten, die nicht nur das Problem erklären, sondern auch einen ersten Schritt aus dem Schlamassel heraus beschreiben. Man kann bei allen Artikeln darauf achten: Wird mir hier nur das Problem präsentiert oder auch eine Lösung und ein Beispiel, wie man es besser machen kann? Wenn das wirklich gar nicht stattfindet, würde ich mich an anderer Stelle weiter umsehen. Ich nenne das in meinem Buch lapidar "Scheiße + X".

Was genau bedeutet "Scheiße + X"?

Die Formel meint, dass wir uns bei allem Negativen die Frage stellen, was wir tun können, damit die Situation besser wird. Beim Thema Krieg könnte das "X" sein, was wir als Einzelpersonen oder als Gesellschaft tun können, damit die Situation etwas besser wird. Wir sollten wissen, wie Lösungen funktionieren, wie wir als Gesellschaft funktionieren.

"Stattdessen wird gerade in Talkshows viel darüber diskutiert, wie alles noch schlimmer werden kann"

Was könnte dieses "X" bei der aktuellen Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine sein?

Zum Beispiel: Wie ist der zivile Widerstand in der Ukraine? Mich haben Videos beeindruckt, bei denen unbewaffnete Menschen den Dialog zu russischen Soldaten gesucht oder Panzer gestoppt haben. Oder: Wie sieht der Protest innerhalb Russlands aus? Es gibt Tausende Protestierende in Russland, Journalistinnen, Künstler, die offene Briefe geschrieben haben. Eine Perspektive, die ich bisher kaum gelesen habe und mir sehr fehlt, ist: Wie ist es bei anderen militärischen Konflikten gewesen? Wie funktioniert Deeskalation? Welche diplomatischen Bemühungen sind notwendig, um Kriege zu beenden? Wie verhandelt man einen Waffenstillstand, wie verlaufen eigentlich Friedensverhandlungen? Darüber gibt es sehr wenig Wissen in unserer Gesellschaft. Stattdessen wird gerade in Talkshows viel darüber diskutiert, wie alles noch schlimmer werden kann. Auch wenn der Frieden noch fern ist, ist es wichtig zu wissen: Wie kommen wir dorthin? Es wurde zum Beispiel viel darüber geschrieben, dass Wladimir Putin auch Atomwaffen einsetzen könnte. Erst sehr viel später habe ich gelesen, dass er alleine die Atomwaffen gar nicht auslösen kann.

Es wird momentan auch viel über Angst geschrieben. Wie erleben Sie es, wie Menschen in Deutschland mit der Situation umgehen? Herrscht bei manchen bereits in der Vorstellung ein Atomkrieg – obwohl Fachleute das nach wie vor für sehr unwahrscheinlich halten?

Ich denke, die Angst hat sich bei vielen vergaloppiert. Es gibt auch Forschungen dazu, dass wir mehr zu dieser einen Sache suchen, wenn wir Angst vor ihr haben. Es ist so, wie wenn man nach Krankheitssymptomen googelt: Da landet man von einer Erkältung schnell beim Herzinfarkt. Das ist ein menschlicher Reflex. Umso wichtiger, dass wir ihn kennen. Wenn ich also Angst habe, dass in Deutschland ein Krieg ausbrechen könnte – was ja aktuell ein sehr unwahrscheinliches Szenario ist –, ist das ein Anzeichen dafür, dass ich zu viel negative Nachrichten konsumiert habe. Dann ist es wichtig, sich zu schützen und zu schauen, dass es mir wieder besser geht. Die meisten Nachrichten sind ein Fehlerbericht. Das sollte man sich vorher klarmachen: Ich schaue gleich keinen Bericht über die Welt, sondern einen Fehlerbericht, der mir zeigt, was alles schief läuft.

"Es geht nicht darum, Feel-good-Nachrichten zu machen"

Konstruktiver Journalismus gilt bei vielen Medienschaffenden als ein Ideal. In der Realität sind es aber oft die angesprochenen Bilder oder "negativen Nachrichten", die von deutlich mehr Lesenden konsumieret werden.
Schreckens- und Eilmeldungen werden natürlich stark geklickt. Es gibt aber Studien, die zeigen, dass Menschen Artikel oder Tweets dann am häufigsten teilen, wenn der Text einen ermutigenden Aspekt hat. Es geht nicht darum, Feel-good-Nachrichten zu machen. In Dänemark gibt es eine lange Tradition von konstruktivem Journalismus. Dort zeigt sich, dass die Quoten steigen, wenn auch gute Nachrichten auftauchen und eine langfristigere Bindung an die Redaktionen entsteht. In Deutschland ist das Konzept noch nicht so verbreitet, aber da tut sich gerade viel. Viele Redaktionen machen es auch, in sehr großen Nachrichtenredaktionen wird aber vor allem negativ berichtet.

Wo sehen Sie Redaktionen wie auch die unsrige, die aktuelle Lagen wie in der Ukraine mit Live-Tickern abdecken, in der Pflicht oder Medienhäuser im Allgemeinen?

Mein Vorschlag ist: Weiterhin unbedingt über Missstände und Probleme berichten. Aber auch den Ansporn haben, bei jedem Problem eine Perspektive einbringen, wie wir damit umgehen können. Meist gibt es diese Lösungen schon, genauso wie die Menschen, die sich dafür einsetzen. Auch die Fragen "Wie läuft es bereits in anderen Ländern?" oder "Welche Konzepte und Gesetze gibt es" sind wichtig.

"Gleichzeitig heißt dieses Privileg nicht, dass wir 10, 20 Stunden am Tag mitleiden sollten"

Aktuell werden angeblich Staatsmedien in Russland gehackt, um der Bevölkerung Bilder und Berichte aus dem Krieg in der Ukraine zu zeigen. Ist es nicht auch ein sehr großes Privileg, dass wir unabhängige Nachrichten haben, die Missstände zeigen und wir uns überhaupt mit der Frage beschäftigen können, wie wir damit am besten umgehen?

Absolut. Die Nachrichten zu haben und auch die Wahl zu haben, sie auszuschalten, sind riesige Privilegien. In vielen Ländern der Welt gibt es die Pressefreiheit und all diese Informationen nicht. In vielen Ländern der Welt können die Menschen nicht sagen, dass sie jetzt einfach mal vier Stunden keine Nachrichten verfolgen, weil ihnen das gut tut. Gleichzeitig heißt dieses Privileg nicht, dass wir 10, 20 Stunden am Tag mitleiden sollten. Nicht, weil Mitgefühl schlecht ist, sondern weil das niemandem etwas bringt. Am wenigsten den Menschen, die vom Krieg betroffen sind. Wer sich selbst hilflos oder schuldig fühlt, weil er oder sie denkt, zu privilegiert zu sein, sollte sich selbst schützen. Auch – oder besonders dann - wenn man helfen möchte. Solidarität und Unterstützung können wir nur leisten, wenn wir selbst stabil sind.

Zur Person: Ronja von Wurmb-Seibel ist Journalistin, Autorin und Filmemacherin. Sie hat knapp zwei Jahre als Reporterin in Kabul gelebt. Vor ihrer Zeit in Kabul war sie Politik-Redakteurin bei der ZEIT. "Wie wir die Welt sehen" ist ihr zweites Buch.
Offenlegung: Die Interviewpartnerin hat früher als Werkstudentin für die Redaktion von WEB.DE und GMX gearbeitet und ist mit Mitgliedern der Redaktion bekannt. Zur Wahrung der Unabhängigkeit wurde dieses Interview daher von einer anderen Kollegin geführt.
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