Politiker, Manager und Experten warnen davor, dass der deutsche Wirtschaftsmotor stottere – und das inmitten von Rekordbeschäftigung. Tatsächlich könnte das sonst so krisentaugliche Deutschland in den nächsten Jahren in die Defensive geraten.

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Es ist ein Schlaglicht, das Friedrich Merz auf Deutschland wirft - und zwar kein gutes. In seinem letzten großen Interview als Vorsitzender der einflussreichen Atlantik-Brücke wirft der CDU-Politiker den Deutschen vor, sie lebten in einer "Wohlstandsillusion".

Schlimmer noch, glaubt Merz, seien die Voraussetzungen für den Erhalt des Wohlstands im 21. Jahrhundert aktuell nicht vorhanden. Merz, der im Dezember in einer Kampfabstimmung um den CDU-Vorsitz Annegret Kramp-Karrenbauer unterlag und im Juni in die Führung des CDU-Wirtschaftsrats rücken wird, sieht "ernsthafte Probleme" in der ausreichenden Versorgung mit Wohnraum, in der Altersversorgung einer alternden Bevölkerung und in der steigenden Steuerquote.

Er kritisiert mangelnde Investitionen und warnt vor der Abhängigkeit von chinesischer Technologie. Und er warnt davor, den Zustand eines freiheitlichen Kontinents als selbstverständlich hinzunehmen. Leitet Merz der Groll gegenüber einer Bundesregierung, die von Angela Merkel geführt wird und damit seiner erklärten Erzfeindin?

Deutscher Wohlstand: Nicht nur Merz mit düsterer Prognose

Merz ist nicht der einzige Politiker, der erwartet, dass trübe Konjunkturaussichten und Handelskonflikte Deutschland - das wie kaum ein anderes Land abhängig von freien Märkten ist - empfindlich treffen könnten. Auch EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber warnt davor, "dass wir in der Digitalisierung nicht den Anschluss verlieren". Deutschland spüre, "dass wir als einzelne Länder in der Welt von heute nur noch bedingt Einfluss haben".

Und selbst SPD-Finanzminister Olaf Scholz, sonst bekannt als wortkarger Hanseat, stimmte in der "Bild"-Zeitung in den Kanon der Schwarzmaler ein. "Die fetten Jahre sind vorbei" – und damit die Zeit, in der der Staat mehr Steuern einnehme als erwartet. Er sehe "keine unvorhergesehenen Mehreinnahmen mehr".

Sprechen hier Pessimisten, die aus kalkulierter Sorge politisches Kapital schlagen? Oder sind die Zeiten wachsenden Wohlstands, robuster Wirtschaft und grenzenloser Freiheiten wirklich vorbei? Zeit, einen Blick auf die Fakten zu werfen.

Die gefühlte Wahrheit

Wenn die Politik warnt, zetert und Erwartungen bremst, trifft sie damit einen Nerv. Denn die Deutschen sind stark verunsichert. Zwar geht es den meisten wirtschaftlich so gut wie nie, doch ist die "Generation Mitte" nach einer Umfrage des Allensbach-Instituts tief verunsichert.

Eine Mehrheit der 30- bis 59-Jährigen gibt an, ihnen gehe es heute besser als noch vor fünf Jahren, insbesondere sei ihre Sorge um den Arbeitsplatz gering. Dennoch bezieht nur noch knapp jeder Vierte ein Gefühl von Sicherheit aus der politischen Stabilität. Vier Jahre zuvor hatte noch jeder Zweite diese Frage positiv beantwortet.

Das Meinungsforschungsinstitut Ipsos will Ende des vergangenen Jahres sogar gemessen haben, dass nur noch 17 Prozent der Befragten dem Jahr 2019 mit großer Zuversicht und Optimismus entgegenblickten.

So geht es Deutschland wirklich

Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psychologie – das wusste schon der Vater des deutschen Wirtschaftswunders, Ludwig Erhard. Übertreiben es die Deutschen deshalb ein wenig mit ihrem Krisengefühl? Wie schlecht steht es um unseren Wohlstand wirklich?

0,29 ist eine Zahl, die den Deutschen Mut machen sollte. Der oft genutzte Gini-Koeffizient gibt an, wie ungleich Einkommen in einer Wirtschaft verteilt sind. Für Deutschland lag der Gini-Koeffizient der Nettoeinkommen im Jahr 2015 (aktuellste Zahl) bei 0,29 und hat sich seit 2005 nicht mehr signifikant erhöht.

Berücksichtigt man die Bevölkerungsgröße der Länder, ist die Ungleichheit im Vergleich zu anderen EU-Staaten damit unterdurchschnittlich ausgeprägt. Mit einem Wert von 0,39 sind die Einkommen in den USA hingegen ein ganzes Stück ungleicher verteilt.

Dass dieser Zustand auch über die nächsten Jahre trägt, dafür spricht der Arbeitsmarkt. Das deutsche Jobwunder währt nunmehr seit zehn Jahren. Galten nach der Finanzkrise 2009 rund 3,4 Millionen Menschen als arbeitslos, knacken die Angaben der Bundesagentur für Arbeit einen Rekord nach dem nächsten. Im April sank die Arbeitslosigkeit auf 2,2 Millionen Menschen und damit auf den geringsten April-Wert nach der Wiedervereinigung.

Auch die Arbeitnehmer partizipieren an den Beschäftigungsrekorden. Denn anders als oftmals in politischen Diskussionen angeführt, öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich laut Armutsbericht der Bundesregierung nicht. Das statistische Bruttoeinkommen lag 2009 in Deutschland bei 3.141 Euro – 2017 waren es im Schnitt 3.771 Euro und damit 20 Prozent mehr.

Doch ist es ausgemacht, dass es bei diesem Wohlstand bleibt?

Konzernchefs, Politiker und Topmanager monieren immer häufiger, dass Deutschland von seiner Substanz zehre. Marode Brücken, kaputte Straßen und geschlossene Turnhallen unterfüttern dieses subjektive Empfinden hinlänglich mit Substanz.

Wolfang Reitzle, Aufsichtsratschef von Linde und einer der erfolgreichsten Unternehmenslenker der Republik, bilanzierte in diesen Tagen die Arbeit der Bundesregierung in mehreren Zeitungen mit scharfer Kritik. "Deutschland hat keinen Anspruch mehr an sich selbst", sagte er der "Bild"-Zeitung. Im "Spiegel" warnte er sogar davor, "'Made in Germany' wird im Ausland zunehmend entzaubert".

Es gibt einige Vorboten, die diesen Schluss zulassen. Längst beherrschen internationale Tech-Konzerne wie Google oder Facebook die Börsen. Und während der Carsharing-Dienst Uber vergangene Woche mit 76 Milliarden US-Dollar an die Börse ging, ist SAP – die erfolgreichste deutsche Gründung der Nachkriegszeit – schon fast 50 Jahre alt.

Ein Motor, der in den vergangenen Jahrzehnten dennoch zuverlässig lief, ist die deutsche Autoindustrie. Im produzierenden Gewerbe wird jeder vierte Euro mit einem automobilen Produkt umgesetzt. Fast acht Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung gehen auf die Autoindustrie zurück. Und 1,8 Millionen Arbeitsplätze hängen direkt oder indirekt von BMW, VW oder Daimler ab.

Umso genauer sollte Deutschland aufhorchen ob der Gewitterwolken, die sich über diesem wichtigen Wirtschaftszweig auftun. Denn US-Präsident Donald Trump hat sich darauf eingeschossen, den Welthandel neu zu definieren – und es insbesondere auf die deutschen Autoproduzenten abgesehen.

Er hatte damit gedroht, einen Strafzoll von 25 Prozent auf jedes eingeführte Auto zu verhängen, wenn Deutschland nicht weniger exportiert. Ob des Handelskonflikts mit China hat Trump diese Entscheidung vertagt. Doch sollten die Strafzölle kommen, würden sie Deutschland empfindlich treffen und damit auch die Konjunktur. Die Deutsche Bank taxiert den Schaden auf 1,6 Milliarden Euro.

Bei der Digitalisierung ist Deutschland längst abgehängt

Anders als viele andere Staaten in der Welt verfügt Deutschland über wenige Rohstoffe - aber über kluge Köpfe. "Made in Germany" stand über viele Jahre für Ingenieurskunst und Zuverlässigkeit. Doch bei der technischen Herausforderung des 21. Jahrhunderts, der Digitalisierung, ist Deutschland kein Champion.

Der Akamai-Internetreport, ein international anerkannter Bericht über den Zustand des Internets, sieht Deutschland auf dem 25. Platz - abgeschlagen hinter Südkorea, Schweden oder Hongkong. Von einer flächendeckenden Breitbandversorgung ist Deutschland im Jahr 2019 immer noch weit entfernt. Der nächste Supercomputer, so prognostizieren es Experten, wird aus China kommen.

Auch die demografische Entwicklung ist eine zusätzliche Belastung für die Deutschen. Wegen seiner niedrigen Geburtenrate altert die Bundesrepublik schneller als seine Nachbarländer. Ab 2020 wird die Generation der zwölf Millionen Babyboomer stückweise in Rente gehen.

Reiner Klingholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, warnt, dass die Verrentung dieser Generation "die gute wirtschaftliche Lage gefährden" könnte. In ländlichen Regionen würden die Babyboomer große Lücken in die Belegschaft reißen, wenn sie in Rente gehen.

Fakt ist: Bereits heute klafft ein Milliardenloch in der Rentenversicherung: Das ifo-Institut bezifferte die Mehrausgaben, die die Rentenversicherung für die Rente mit 63 aufbringen musste, von 2014 bis 2016 auf zwölf Milliarden Euro. Seit Anfang Mai 2018 arbeitet eine Rentenkommission an Vorschlägen, die die gesetzliche Rente ab dem Jahr 2025 zukunftsfest machen soll. Eine Lösung ist bislang nicht in Sicht.

Deutschland, da sind sich Experten einig, steht vor massiven Herausforderungen. Doch ob diese unter der amtierenden Bundesregierung gelöst werden, ist fraglich. Sollten die Wähler bei der Europawahl die große Koalition abstrafen, drohen Neuwahlen. Und Wahlkampf ist bekanntlich die Zeit für Wählergeschenke, in der Substanz ab- und nicht aufgebaut wird.

Verwendete Quellen:

  • Körber-Stiftung: Die Babyboomer gehen in Rente
  • Wirtschaftswoche: Streitgespräch: Wie schlecht geht es uns wirklich?
  • Bild am Sonntag: Top-Manager Reizle über die Fehler der Kanzlerin
  • Der Spiegel: "Die fetten Jahre sind vorbei"
  • Institut der deutschen Wirtschaft: Gini-Koeffizient: Deutschland in guter Gesellschaft
  • Akamai: State of the Internet – Q1 2017 Report
  • ifo-Institut: The Effects of Early Retirement Incentives on Retirement Decisions
  • Focus Magazin: Wir leben in einer Wohlstandsillusion
  • Allensbach-Institut: Generation Mitte 2018
  • Welt: Deutsche so pessimistisch wie seit einem halben Jahrzehnt nicht mehr
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