Fünf Jahre liegt der letzte Wimbledonsieg für den DTB zurück, als Angelique Kerber triumphierte. Nach guten Leistungen in der Vorbereitung könnte auch 2023 etwas für die deutschen Damen und Herren drin sein. Ein Überblick.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Matthias Kohlmaier sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Wer an magische Augenblicke mit deutscher Beteiligung in Wimbledon denken will, muss sich gar nicht an Steffi Grafs oder Boris Beckers Glanzzeiten erinnern. Man denke nur an 2015, als Dustin Brown auf dem Centre Court die Dreadlocks fliegen ließ und den großen Rafael Nadal teilweise vorführte und in Runde zwei aus dem Turnier warf. Oder der Triumph von Angelique Kerber 2018, als sie auf ihrem Weg zum Turniersieg nur einen einzigen Satz abgab. Und natürlich Außenseiterin Tatjana Maria im vergangenen Jahr, die die deutlich höher eingestuften Maria Sakkari und Jelena Ostapenko niederkämpfte und bis ins Halbfinale kam.

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Nun, wenn die 136. Ausgabe des Turniers im All England Lawn Tennis and Croquet Club ansteht, reisen die deutschen Spieler und Spielerinnen zwar nicht als Top-Favoriten auf den Titel nach London. Aber: Zumindest die Männer haben in den Vorbereitungsturnieren gezeigt, dass mit entsprechender Auslosung und dem Quäntchen Glück, das beim Rasentennis immer eine etwas größerer Rolle spielt als auf den anderen Belägen, etwas drin sein könnte. Wie stehen die Chancen von Alexander Zverev, Tatjana Maria und Co.? Ein Überblick.

Der Mitfavorit: Alexander Zverev

Er ist wieder da. Also zumindest die Ergebnisse stimmten bei Alexander Zverev zuletzt. Bei den French Open erreichte er nach starken Leistungen das Halbfinale, wo er gegen Casper Ruud wegen einer Zerrung chancenlos blieb. Im Hinblick auf Wimbledon aber noch wichtiger ist der Einzug ins Semifinale beim Rasenturnier in Halle vergangene Woche. Nach drei glatten Siegen kam das Aus erst gegen den bestens aufgelegten späteren Sieger Alexander Bublik. "Ich habe keine Ahnung, was ich hätte anders machen sollen", lobte Zverev die starke Leistung seines Gegners laut Eurosport.

Trotz der Niederlage rechnet sich Zverev durchaus Chancen beim dritten Grand-Slam-Event des Jahres aus: "Ich fahre da nicht hin wie ein Kasper und nehme es als Trainingswoche." Sein liebster Untergrund ist der mithin unberechenbare Rasen dennoch nicht. Und das hängt, zumindest laut Zverev, auch mit seinen körperlichen Voraussetzungen zusammen. "Ich bin einfach zu groß für den Belag", sagte er vor Beginn der Rasensaison.

Tatsächlich sind seine fast zwei Meter Körperlänge auf Rasen, wo der Ball viel flacher abspringt als auf anderen Belägen, zumindest eine Herausforderung. Man kann es aber auch so sehen: Ein großer Spieler wie Zverev, der hart aufschlagen kann und eine große Reichweite bei Netzangriffen mitbringt, hat gegenüber vielen Kontrahenten auch Vorteile auf Rasen.

Am Ende dürfte ohnehin Zverevs Kopf eine weitaus größere Rolle spielen als seine Größe. Denn noch immer ist eines seiner zentralen Probleme, wenn es in einem Match nicht so richtig läuft, die Position auf dem Platz. Fehlt ihm das Selbstvertrauen, lässt er sich etwa weiter hinter die Grundlinie zurückfallen und agiert eher defensiv – eine Spielweise, mit der auf dem für schnelles Offensivtennis gemachten Rasen wenig zu gewinnen ist. Wenn Zverev also in den ersten Runden des Turniers Zutrauen in die eigenen Stärken sowie möglichst häufig den Weg ans Netz findet, kann er definitiv weit kommen in Wimbledon.

Der Rasenfreund: Jan-Lennard Struff

Nur ein einziger Punkt hat gefehlt: Im Finale des Wimbledon-Vorbereitungsturniers in Stuttgart hatte Jan-Lennard Struff im Tiebreak des dritten Durchgangs Matchball gegen Frances Tiafoe. Doch der Amerikaner setze sich am Ende durch, Struff blieb sein erster Einzeltitel auf ATP-Niveau verwehrt.

Diesen großen Titel wird er sich auch in Wimbledon nicht holen können: Medienberichten zufolge musste Struff verletzungsbedingt seine Teilnahme absagen; ein schwerer Schlag für Tennis-Deutschland, war er doch in bestechender Form und hätte wohl gute Chancen gehabt, weit zu kommen.

Die Doppelspezialisten: Tim Pütz, Kevin Krawietz, Andreas Mies

Die Grand Slams sind auch immer die größte Bühne für die Doppelspezialisten, die sonst ein wenig unter dem Radar der meisten Zuschauer von Turnier zu Turnier reisen. Weil das so ist, haben selbst unter eingefleischten Fans viele nicht mitbekommen, dass gerade erst, beim Grand Slam in Paris, ein Deutscher einen Titel geholt hat: Tim Pütz gewann zusammen mit der Japanerin Miyu Kato die Mixedkonkurrenz und feierte damit seinen ersten Sieg bei den Big Four.

In London wird Pütz im Doppel mit seinem Partner Kevin Krawietz am Start sein und zum erweiterten Favoritenkreis zählen. Ebenso Andreas Mies, früherer Partner von Krawietz. Mies stand in diesem Jahr bereits im Viertelfinale der Australian Open (mit dem Australier John Peers) und gar im Halbfinale von Roland Garros (mit dem Niederländer Matwe Middelkoop). In den unglaublich schnellen, taktisch geprägten und gerade deshalb so unterhaltsamen Doppelwettbewerben, wo unter den Top-Duos quasi jeder jeden schlagen kann, haben die deutschen Männer in jedem Fall noch größere Chancen auf den Titel als im Einzel.

Übrigens, auch der letzte Herren-Triumph für den DTB an der Church Road wurde im Doppel geholt: 2010 gewann Philipp Petzschner an der Seite des Österreichers Jürgen Melzer.

So sieht es vor Wimbledon bei den deutschen Damen aus

"Wir haben großartige Talente, aber wir haben keine Ausnahmetalente. […] Es gibt im deutschen Tennis aktuell keine 14- oder 15-Jährige, bei der ich sofort sage: ‚Wartet mal noch zwei Jahre, die wird die Überfliegerin‘." Diese Sätze hat DTB-Bundestrainerin Barbara Rittner vor ziemlich genau zwei Jahren in einem Interview mit t-online gesagt und damit Recht behalten. Verheerend war und ist Rittners Begründung für die Zustände im deutschen Damentennis: Bei den jungen Spielerinnen sei "dieser Biss, die Leidenschaft und der konstante Durchsetzungswille geringer als beispielsweise in der vorherigen Generation".

Nachdem die nächste Senkrechtstarterin auf sich warten lässt, konnte zumindest beim Wimbledonturnier 2022 Tatjana Maria im Herbst ihrer Karriere in die Bresche springen. Sie ist derzeit auch in der Weltrangliste die am besten notierte Deutsche – allerdings erst auf Rang 58. Was ist dieses Jahr für den DTB bei der Damenkonkurrenz in London drin?

Die Wundertüte: Tatjana Maria

Seit unglaublichen 22 Jahren ist Tatjana Maria mittlerweile als Tennisprofi unterwegs – bis 2013 noch unter ihrem Geburtsnamen Malek. Um zu verstehen, was ihr sensationeller Halbfinaleinzug im vergangenen Wimbledonturnier bedeutet, muss man die Dinge nur einmal finanziell ins Verhältnis setzen: Im Durchschnitt hat Maria während ihrer Karriere etwas mehr als 213.000 Dollar pro Jahr mit dem Tennisspielen verdient. Allein in Wimbledon im vergangenen Jahr belief sich ihr Preisgeld auf rund 650.000 Dollar. Anders gesagt: Maria hat in Wimbledon 2022 so viel verdient wie sonst in drei Jahren.

Noch ein bisschen wichtiger als das Geld dürfte Maria aber laut "Porsche-Newsroom" etwas anderes gewesen sein: "Das Schönste war, dass ich das alles zusammen mit meiner Familie erleben durfte, mit meinem Mann und meinen Töchtern Charlotte und Cecilia." Ehemann Charles ist zugleich Marias Trainer, die Kinder sind auf ihren Tennisreisen fast immer dabei. Auch in diesem Jahr durften sie schon zweimal mit ihrer Mutter jubeln: Einem Triumph beim kleinen ITF-Turnier in Pune folgte ein Sieg beim WTA-Event von Bogota.

Dass gerade der schnelle Rasen Marias Spiel sehr entgegenkommt, hat sie vor ein paar Tagen erneut unter Beweis gestellt, falls es eines solchen noch bedurfte: Beim Vorbereitungsturnier von Bad Homburg traf sie gleich in Runde eins auf die Weltranglistenführende Iga Swiatek aus Polen. Das Match ging zwar an die Polin, jedoch konnte Maria den ersten Durchgang für sich entscheiden und stellte Swiatek vor weitaus größere Probleme als erwartet.

Auch in Wimbledon wird Maria nun wieder mit ihrem gerade auf Rasen so fies und flach abspringenden Slice die Gegnerinnen in die Verzweiflung treiben. Ungewöhnlich am Spiel der 35-Jährigen: Sie spielt die stark unterschnittenen Bälle nicht nur mit der Rückhand, sondern oft auch auf der Vorhandseite.

Die Tempomacherin: Jule Niemeier

Für Jule Niemeier war die Saison 2023 bisher eine zum Vergessen: Reihenweise hagelte es für die 23-Jährige Erstrundenniederlagen, teils sehr deutliche. Aber zuletzt beim Vorbereitungsturnier in Berlin schlug sie nach erfolgreicher Qualifikation fürs Hauptfeld in Runde eins die Tunesierin Ons Jabeur, immerhin die Nummer sechs in der aktuellen Weltrangliste. Auch wenn danach das Aus kam, hat Niemeier sich nach längerer Zeit bewiesen, dass sie mit den Besten mithalten kann – zumal auf Rasen, dem Belag, der Niemeiers Powertennis von der Grundlinie am meisten entgegenkommt.

Auf dem feierte sie auch ihren größten Karriereerfolg, als sie sich bei Wimbledon 2022 bis ins Viertelfinale kämpfte und dabei unter anderem die damals an Position zwei gesetzte Estin Anett Kontaveit deutlich besiegte. Danach folgte noch eine Achtelfinalteilnahme bei den US Open.

Dass seitdem die Ergebnisse nicht mehr gestimmt haben, darüber macht sich Niemeier derweil keine zu großen Sorgen, wie sie kürzlich laut Sportschau erklärte: "Ich spiele kein schlechtes Tennis. Es wäre viel, viel schlimmer, wenn mein Spiel nicht da wäre und ich das Gefühl habe, ich habe das Level nicht, um die Leute zu schlagen. Aber ich habe das Level, das habe ich letztes Jahr bewiesen." Und weiter: "Ein Erfolgserlebnis, und es geht nach oben." Mal sehen, ob dieses Erlebnis in Wimbledon auf Niemeier wartet.

Verwendete Quellen:

  • Eurosport: ATP Halle - Alexander Zverev bringt sich trotz Halbfinal-Niederlage für Wimbledon in Position
  • Süddeutsche Zeitung: Neuer Angriff von Struff: "Bock auf Wimbledon"
  • t-online.de: DTB-Chefin Rittner: "Man muss sich Sorgen um Osaka machen"
  • Porsche Newsroom: Tatjana Maria: "Der Porsche Tennis Grand Prix war für mich schon immer etwas Besonderes"
  • Sportschau.de: Jule Niemeier: "Ein Erfolgserlebnis und es geht nach oben"
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