• Am 4. Februar 2022 starten in Peking die Olympischen Winterspiele 2022.
  • Vorfreude will bei den deutschen Athletinnen und Athleten dabei jedoch nicht so richtig aufkommen. Zu unsicher ist die Lage vor Ort, zu problematisch für viele Gastgeber China.
  • Athletensprecher Maximilian Klein erklärt im Interview mit unserer Redaktion, warum die Sportlerinnen und Sportler kaum mehr Vertrauen zum Internationalen Olympischen Komitee (IOC) haben und was sie Sportlerinnen und Sportlern vor Ort raten.
Ein Interview

Die Omikron-Welle hat auch China erreicht, die Menschenrechtslage ist problematisch, deutsche Sportlerinnen und Sportler befürchten Manipulationen bei Coronatests, die Pressefreiheit ist quasi inexistent und die Datenschutzlage fürchterlich – gibt es überhaupt einen Grund, sich auf die Olympischen Spiele zu freuen?

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Maximilian Klein: Die Athletinnen und Athleten freuen sich natürlich schon auf die Olympischen Spiele, weil sie in den letzten Jahren sehr viele Entbehrungen in Kauf genommen und auf diesen sportlichen Höhepunkt hintrainiert haben. Aber es ist natürlich richtig, dass die Menschenrechtslage desaströs ist und das IOC zu wenig für den Schutz und die Sicherheit von Sportlerinnen und Sportlern unternimmt. Gleichzeitig haben wir noch Sicherheits- und Gesundheitsbedenken aufgrund der Omikron-Welle. Es gibt also einige Faktoren, die dazu führen, dass Athletinnen und Athleten mit gemischten Gefühlen nach Peking fahren.

Wie nehmen Sie die Gefühlslage bei den Athletinnen und Athleten wahr? Welche Sorgen und Bedenken werden so kurz vor den Spielen geäußert?

Die Athletinnen und Athleten haben ein hohes Maß an Sensibilisierung für die Menschenrechtslage vor Ort. Das führt dazu, dass manche sogar hinterfragen – auch wegen der Corona-Situation –, dort überhaupt hinzufahren. Bei aller sportlichen Vorfreude gibt es einfach so viele Rahmenbedingungen, die nicht passen.

Tobias Arlt, der im November bereits in Peking war und dort nach einem falsch-positiven Schnelltest auch die strengen Corona-Maßnahmen am eigenen Leib erfahren musste, erklärte danach, dass er sich nicht trauen würde, Kritik an China zu üben, während er im Land ist. Ist diese Sorge vor Repressalien berechtigt?

Das ist durchaus ernst zu nehmen. Wir wissen nicht genau, wie China auf Kritik von Athletinnen und Athleten reagieren wird. Am Fall der Tennisspielerin Peng Shuai sieht man, wie China mit unliebsamen Personen umgeht. Kürzlich soll ein Mitglied des chinesischen Organisationskomitees mit Sanktionen gedroht haben, sollte jemand mit Meinungsäußerungen gegen chinesische Bestimmungen verstoßen. Davon muss sich das IOC natürlich umgehend distanzieren und sich schützend vor die Athletinnen und Athleten stellen. Das Problem ist, dass auch das IOC mit der sogenannten Regel 50 der Olympischen Charta der Meinungsfreiheit von Athletinnen und Athleten Steine in den Weg legt und diese auf dem Podium weiterhin pauschal einschränkt. Das führt insgesamt zu Zweifeln, ob wirklich alles für die Sicherheit getan wird. Denn wenn man sich kritisch äußern will, dann sollte man das ohne Angst vor Repressalien und Nachteilen tun können. Nun, da bereits Repressalien bei unliebsamen Äußerungen angedroht wurden, ist es nur verständlich, wenn Athletinnen und Athleten aus reinem Selbstschutz ganz darauf verzichten.

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Ihre Forderungen an das IOC haben Sie im Dezember 2021 veröffentlicht, kurz nach dem Verschwinden von Peng Shuai. Hat sich seither etwas getan? Hat sich das IOC geäußert?

Das IOC hat eine längere Tradition des Schweigens und hat in der Vergangenheit viel zu oft nicht oder nur zögerlich reagiert, wenn Athletinnen und Athleten Repressalien, Verfolgung oder Diskriminierung ausgesetzt waren. Der Fall Peng Shuai hat leider wieder einmal gezeigt, dass politische und wirtschaftliche Erwägungen im Zweifel mehr zählen als die Rechte und der Schutz von Athletinnen und Athleten. Das IOC kommt dahingehend seiner Verantwortung und seinen menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten unzureichend nach. Da haben wir in den letzten Wochen nicht unbedingt mehr Vertrauen fassen können. Wir sehen aber, dass das IOC bemüht ist, die Rahmenbedingungen vor Ort zu verbessern, beispielsweise die Quarantänebedingungen.

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Ist das IOC noch ein würdiger Ausrichter der Olympischen Spiele?

Die Lücke zwischen Anspruch und Realität ist beim IOC relativ groß. Das IOC hat mit seinem Verhalten in den vergangenen Jahren einiges dafür getan, dass die oft hochgehaltenen Olympischen Ideale immer weiter ausgehöhlt wurden und das hat eben zu einem fast irreparablen Vertrauensverlust geführt. Deshalb ist die Frage legitim, ob das IOC überhaupt noch der würdige Ausrichter ist. Die Olympische Bewegung an sich, auch die Ideale, die dahinterstehen, die Kraft des Sports für nachhaltige Entwicklung, für positiven gesellschaftlichen Nutzen, sind unbestritten. Da ist Potenzial da. Aber die Organisationen des Sports und diejenigen, die Verantwortung tragen, die tun aktuell sehr wenig dafür, würdige Ausrichter der Spiele zu sein.

2008 hat das IOC argumentiert, man gebe die Olympischen Spiele an China, um die Menschenrechtslage dort zu verbessern. Andererseits erklärte IOC-Präsident Thomas Bach aber auch unlängst im ZDF, das IOC sei nicht dazu da, die "politischen Probleme dieser Welt zu lösen". Was denn nun?

Politisch neutral zu sein bedeutet nicht, Menschenrechtsverletzungen und mit Blick auf China sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit stillschweigend hinzunehmen und sie mit diesem Schweigen sogar zu legitimieren. Dennoch ist es natürlich richtig, dass das IOC nicht das Unheil der Welt abstellen kann, das ist auch nicht seine Rolle. Man muss das IOC allerdings betrachten wie ein Unternehmen. Und von einem global agierenden Unternehmen erwarten wir, dass es sich proaktiv mit den Menschenrechtsrisiken in ihren Lieferketten in ihrem Geschäftsbereich auseinandersetzt. Gleichzeitig müssen wir uns spätestens nach den Spielen in China die Frage stellen, wo wir die rote Linie einziehen. Diese Debatte muss geführt werden. Da muss es Reibung geben, und das müssen wir auch aushalten. Dann kommen wir vielleicht auch irgendwann zu dem Schluss, dass ein Land, das laut Human Rights Watch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, nicht Gastgeberland für die Olympischen Spiele sein kann. Schließlich sind die Kernwerte der Olympischen Bewegung die Menschenwürde, Toleranz, Respekt, Fairness und Solidarität.

Nun blickt die Welt vor den Spielen tatsächlich auf China. Die Debatte wird also in Teilen schon geführt. Doch dem chinesischen Regime scheint das egal zu sein. Oder wie sehen Sie das?

Die Debatte sehen wir seit Jahren auf uns zukommen, und doch wird sie jetzt erst kurz vor den Spielen geführt. Aktuell stellt sich die Frage, was diese Debatte tatsächlich bringt. China zeigt sich davon weitgehend unbeeindruckt. Die politische Debatte wird aus meiner Sicht recht kurzfristig und ohne gemeinsame Position geführt. Daher würden wir uns bei der politischen Boykottdiskussion wünschen, dass es nicht bei einer Symbolpolitik gegenüber China bleibt, sondern sich mögliche Boykottentscheidungen in eine kohärente Außenpolitik einreihen.

Ein globaler Sportstreik ist unwahrscheinlich, aber dass es zu vereinzelten Boykotten von Athletinnen und Athleten kommt, ist zumindest noch nicht komplett ausgeschlossen. Glauben Sie, der Boykott Einzelner rührt das chinesische Regime in irgendeiner Weise?

Athletinnen und Athleten haben immer wieder gezeigt, dass sie mit ihrer Vorbildfunktion und Reichweite eine positive Kraft für gesellschaftlichen Wandel sein können. Mit Blick auf China stellt sich aber wirklich die Frage, ob die Entscheidung Einzelner, die dafür hohe persönliche Kosten in Kauf nehmen würden, wirklich etwas verändern würde. Daran habe ich große Zweifel. Am Beispiel der NBA sieht man ja, wie China auf Aktionen aus dem Sport reagiert. Da sollte es nicht an einzelnen Athletinnen und Athleten liegen, ein Zeichen zu setzen, das dann am Ende verpufft. Die Athletinnen und Athleten können aber etwas in der Welt des Sports verändern. Auf internationaler Ebene sind sie allerdings noch viel zu schwach organisiert. Wenn sie sich global organisieren und kollektiv handeln würden, könnten sie streiken. Aber wenn so etwas möglich wäre, hätte sich in der Welt des Sports schon viel mehr getan. Würden die Athletinnen und Athleten wegbleiben, würden die Organisationen des Sports mit großer Sicherheit Wandel herbeiführen.

Am Ende geht es für die Sportlerinnen und Sportler natürlich aber auch um persönliche und wirtschaftliche Überlegungen.

Sie stecken in einem Dilemma, da die Spiele für sie weiterhin ein sportlicher und persönlicher Höhepunkt sind. Die Athletinnen und Athleten hatten in den vergangenen Jahren mit großen Entbehrungen zu kämpfen. Sie haben auf Familienfeiern verzichtet, im sozialen Leben, beruflich, im Studium zurückgesteckt. Und natürlich hängt von den Spielen auch finanziell viel für sie und ihre weitere Förderung ab. Von diesen legitimen Beweggründen einmal abgesehen: Das IOC ist verantwortlich, nicht die Sportlerinnen und Sportler. Sie sind die schwächsten Glieder in der ganzen Kette, waren in keinerlei Entscheidungen eingebunden und sollen jetzt Jahre später die Fehler des IOC ausbaden. So etwas darf sich nicht wiederholen.

Eine Wiederholung ist in den nächsten Jahren tatsächlich unwahrscheinlich. Die nächsten Olympischen Spiele werden 2024 in Frankreich und 2026 in Italien ausgetragen. Erkauft sich das IOC durch die Auswahl dieser Orte noch ein paar Jahre "Weiter so", wenn erstmal die Aufregung um China abgeklungen ist?

Das IOC hätte schon längst eine Menschenrechtsstrategie umsetzen müssen. Dazu liegen seit Februar 2020 umfassende Empfehlungen vor, die unter anderem auch die Menschenrechtslage in China als dringendes Handlungsfeld identifizieren. Das IOC hat es sehr lange unterlassen, sich mit diesen Fragen in seinem Wirkungsbereich auseinanderzusetzen. Es gab Zusagen von chinesischer Seite, dass Menschenrechtsstandards eingehalten werden würden. Die wurden nie veröffentlicht. Wir wissen nicht, wie die Umsetzung kontrolliert werden soll. Es gab Verhandlungsspielräume bei der Vertragsgestaltung, um Menschenrechtsstandards einzusetzen, die wurden offensichtlich nicht genutzt. Es liegt bis heute keine menschenrechtliche Risikoanalyse vor. Es gibt bis heute keinen Plan, wie den Menschenrechtsrisiken begegnet werden soll. Und wir sehen, dass das IOC seit Jahren seiner Verantwortung dahingehend nicht nachkommt. Und Menschenrechtsstrategien nach den Spielen in China umzusetzen, wäre natürlich ein katastrophales Signal, weil dann jede noch vorhandene Glaubwürdigkeit auf lange Zeit verloren wäre.

Sehen Sie denn beim IOC irgendeine Person, die in Zukunft irgendwas am Status quo verändern könnte?

Wir können aktuell nicht beobachten, dass beim IOC von innen heraus irgendetwas in Schwung käme. Das liegt aber auch daran, dass das IOC ein elitärer Klub ist, der sich selbst rekrutiert. Das heißt, die meisten Mitglieder sind sehr linientreu. Und das wiederum heißt, es besteht kaum die Möglichkeit für progressive Kräfte, dort in Funktion und Verantwortung zu kommen. Deshalb ist es so wichtig, dass sich die Athletinnen und Athleten den Sport zurückholen, dass Sponsoren darauf drängen, dass das IOC die Rechte der Sportlerinnen und Sportler wahrt und seiner Verantwortung nachkommt und dass auch Regierungen und Staaten ein klares Zeichen gegenüber dem IOC setzen: "Wir sind mit dieser Vergabepraxis nicht mehr einverstanden." Dass das funktionieren kann, haben wir beispielsweise in Belarus bei der Eishockey-WM gesehen.

Ein wichtiger Grund für China, die Spiele auszurichten, ist laut Experten, um Stärke nach innen zu projizieren. Auch die Kritik von außen wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht verhindern, dass China dieses Ziel erreicht. Gibt es überhaupt noch Möglichkeiten, diese Propagandamaschinerie aufzuhalten oder zumindest aus dem Tritt zu bringen?

Wir steuern seit langer Zeit sehenden Auges auf diese Situation zu. Wichtig ist nun, dass China während der Spiele keine Plattform für seine Propaganda- und Sportwashingzwecke geboten wird. Jede Äußerung von Sportlerinnen und Sportlern kann für Propagandazwecke benutzt werden. Wichtig ist auch, weiterhin - so gut es geht - kritisch auf die Lage vor Ort und die Menschenrechtsverletzungen zu blicken. Nur stellt sich da die Frage, wie und ob das möglich ist und wie auch die Pressefreiheit gewährleistet sein wird. Wir haben da allerdings unsere Zweifel. Für uns ist China eine riesige Blackbox.

Gibt es eine konkrete Empfehlung an die Sportlerinnen und Sportler, was elektronische Geräte angeht?

Die Gefahr von Ausspähung, Überwachung und Datenschutzverletzung ist real und groß. Daher lautet die klare Empfehlung, entweder gar kein elektronisches Gerät mitzunehmen oder komplett neue oder leere Geräte einzupacken. Alle Teilnehmenden müssen eine App nutzen, die von chinesischer Seite entwickelt wurde und offenbar schwerwiegende Sicherheitsmängel aufweist. Das IOC täte auch hier gut daran, mehr für den Schutz der Athletinnen und Athleten zu tun und auf alle erdenklichen Szenarien vorbereitet zu sein.

Drohen uns in Peking also wieder Spiele der Schande?

Die Frage stellt sich tatsächlich, wie wir in hundert Jahren auf die Spiele 2022 zurückblicken. In hundert Jahren wissen wir auch mehr, wie sich China entwickeln wird. Die Spiele dort könnten tatsächlich ein Kipppunkt auch für die Olympische Bewegung bedeuten, weil das letzte Fünkchen Vertrauen für sehr lange Zeit verspielt sein und es einiges an Kraft und Mühe kosten wird, diese Werte der Olympischen Bewegung noch einmal mit Leben zu füllen. Und deshalb ist aus unserer Sicht nicht das Wegducken und das Schweigen die Antwort, sondern die Diskussion darüber, welche Spiele wir in Zukunft wollen.

Was erhoffen Sie sich im besten Fall für die Spiele in China – auch im Sinne der deutschen Athletinnen und Athleten?

Ich wünsche mir, dass die Athletinnen und Athleten sich auf ihren Sport konzentrieren können, gute Bedingungen vorfinden und wohlbehalten zurückkehren. Und dass alles dafür getan wird, den Schutz und die Rechte der Athletinnen und Athleten vor Ort zu gewährleisten. Dass die diesjährigen Spiele aber wirklich eine positive gesellschaftliche Kraft entfalten werden, wage ich zu bezweifeln.

Maximilian Klein ist sportpolitischer Sprecher und Beauftragter für Sportpolitik des Athleten Deutschland e.V. Der Verein ist eine unabhängige Vertretung deutsche Kader-Athletinnen und -Athleten in Deutschland und setzt sich dabei für Veränderungen im nationalen und internationalen Sportsystem ein.

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