Am 10. Januar startet die Handball-EM in Deutschland. Einer, der sich mit Erfolgen bei Heimturnieren auskennt, ist Florian Kehrmann. 2007 wurde er in Deutschland Handball-Weltmeister. Im Interview spricht er über die Chancen der deutschen Mannschaft und die ganz spezielle Aura in der Kölner Halle.

Ein Interview

Herr Kehrmann, die Handball-EM steht in den Startlöchern. Wie groß ist die Vorfreude bei Ihnen persönlich?

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Florian Kehrmann: Die Vorfreude ist riesig! Wir haben eine Handball-Europameisterschaft im eigenen Land. Man merkt es auch - die Berichterstattung und das ganze Drumherum nimmt von Tag zu Tag zu. Und jetzt kann es dann auch endlich losgehen.

Wo sehen Sie sich das Auftaktspiel der deutschen Mannschaft gegen die Schweiz an?

Eigentlich wollte ich das vor Ort im Stadion gucken, ich hatte auch Karten und alles. Aber da ich jetzt seit zwei Tagen wirklich komplett flach liege mit einer Grippe, werde ich wahrscheinlich nicht hinfahren können und mir das stattdessen ganz in Ruhe zu Hause angucken.

Haben Sie vor, weitere Spiele live in der Halle anzusehen?

Ich werde auf jeden Fall bei der Zwischenrunde in Köln Spiele besuchen. Natürlich geht es nicht darum, jedes Spiel zu gucken, weil wir ab dieser Woche auch wieder in die Vorbereitung starten. Aber ein paar Spiele werde ich mir in Köln auf jeden Fall angucken.

Wie schätzen Sie den deutschen Kader bei dieser EM ein?

Wir haben eine gute Mischung. Wir haben ein paar arrivierte Spieler. Wir haben welche, die trotz ihrer jungen Jahre schon gezeigt haben, dass sie bei solchen Ereignissen ein sehr hohes Niveau spielen können. Und wir haben ein paar junge Wilde dabei, die sicherlich auch gerade bei so einer Heim-EM überraschen und einen ganz großen Schritt nach vorne machen können. Das Wichtigste ist, dass in der Mannschaft ein klares Rollenverständnis da ist und das scheint mir zur Zeit so zu sein - es sieht alles sehr positiv aus.

Hat Deutschland mit dieser Mischung Chancen auf den EM-Titel?

Das wird ein weiter Weg. Wir sollten jetzt erstmal gucken, dass wir eine gute Leistung gegen die Schweiz bringen. Wenn wir das schaffen, dann werden wir gut ins Turnier kommen, dann werden wir die Vorrunde überstehen und dann haben wir in der Zwischenrunde mit dem Frankreich-Spiel vielleicht sogar schon drei bis vier Endspiele ums Halbfinale. Und da muss das Ziel sein, so viele Spiele wie möglich zu gewinnen und damit die Chance auf das Halbfinale zu haben.

Und dann?

Alles, was danach kommt, würde wahrscheinlich nur für uns sprechen. Dieser Heimvorteil wird sich immer mehr potenzieren, gerade wenn wir als junge, hungrige Mannschaft, die vielleicht nicht alle auf dem Zettel haben, ins Halbfinale kommen könnten. Dann wäre das natürlich nochmal ein größerer Push, aber bis dahin ist es ein weiter Weg. Ich glaube, es wäre jetzt vermessen, vom Europameister-Titel zu sprechen.

Den Heimvorteil haben Sie gerade angesprochen. Sie selbst haben damit Erfahrungen gemacht, als sie 2007 in Deutschland Weltmeister geworden sind. Wie wichtig war es damals, dass das Turnier in Deutschland stattgefunden hat?

Man kann nicht sagen, wie wichtig es wäre. Man weiß ja nie, was ansonsten gewesen wäre. Aber da war es ähnlich für uns: Das ganz große Ziel war erstmal, das Halbfinale zu erreichen. Als wir das erreicht hatten, hatten wir vielleicht auch diesen Push, dass wir uns nicht mehr vorstellen konnten zu verlieren. Das Publikum hat immer dann, wenn es nötig war, nochmal einen draufgesetzt. Letztendlich hat es gereicht, den Weltmeistertitel zu holen.

Florian Kehrmann und Henning Fritz.
Florian Kehrmann (l.) und Henning Fritz nach dem gewonnenen WM-Finale 2007 in Köln. © imago/Laci Perenyi

Das Finale damals fand in der Lanxess Arena in Köln statt, die damals noch Köln-Arena hieß. Bei einem Weiterkommen würde Deutschland dort die Hauptrunde und auch ein mögliches Finale spielen. Ist diese Halle für einen Handballprofi speziell oder ist es eine Halle wie jede andere?

Sie hat schon eine ganz spezielle Aura. Wenn man Erfahrungen in dieser Halle gesammelt hat, in sehr vielen schönen Momenten auch, hat das etwas ganz Spezielles. Die Gegebenheiten sind dort für ein Handballspiel eigentlich perfekt. Die Größe ist gerade das, was man für ein Handballspiel noch gut darstellen kann. Das wird ein Riesen-Event in Düsseldorf vor über 50.000 Zuschauern, aber das steht eben auch mehr im Mittelpunkt. Da wird es darum gehen, beim Event dabei zu sein und nicht nur das Handballspiel anzugucken.

Wie ist die Stimmung in der Kölner Halle?

Köln ist von der Stimmung her einfach einzigartig - so eng wie die Halle ist und was für eine Stimmung rüberkommen kann. Ich habe das ja nicht nur bei der WM erlebt, sondern letztes Jahr auch beim Final Four (Halbfinale im DHB-Pokal mit dem TBV Lemgo Lippe, d. Red.). Es war unglaublich, wie die Halle da wieder gebrannt hat. Und deswegen bin ich mir auch sehr sicher, dass bei allen Spielem, die die Deutschen noch machen werden, die Halle zu 100 Prozent hinter ihnen stehen wird.

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Wer sind Ihrer Meinung nach die Favoriten auf den EM-Titel?

Für mich sind die vier Favoriten aufs Halbfinale Frankreich, Dänemark, Schweden und Norwegen. Das Gute ist ja, dass drei Mannschaften davon nicht in unserer Zwischenrundengruppe spielen. Deswegen glaube ich, dass wir mit Spanien, Kroatien und Island sicherlich zu den Mannschaften gehören, die ins Halbfinale kommen können. Und wie gesagt: Dann ist alles möglich.

Welches Team von den vier erstgenannten ist für Sie am stärksten?

Der Top-Favorit ist Dänemark, auch gerade aus der Historie der letzten Jahre (Handball-Weltmeister 2019, 2021, 2023, d. Red.). Frankreich mit seiner individuellen Klasse ist ebenfalls stark. Die vier Mannschaften, die ich zuerst genannt habe, sind für mich die Favoriten aufs Halbfinale. Durch die Auslosung können aber nicht alle vier reinkommen. Das ist vielleicht auch eine gute Chance für uns Deutsche.

Patrick Groetzki hat sich im letzten Spiel vor der EM verletzt, fürs Turnier fällt er aus. Sie als ehemaliger Rechtsaußen: Wie schwer wiegt sein Ausfall auf dem Feld?

Für Johnny ist das natürlich extrem bitter. Johnny ist ein ganz wichtiger Spieler in der Mannschaft. Da geht es gar nicht um das auf dem Spielfeld. Ich glaube, dass wir das mit Timo Kastening gut auffangen können. Auch durch die taktische Aufstellung von Alfred (Bundestrainer Alfred Gislason, d. Red.), der ja auch wirklich nur einen Rechtsaußen braucht. Für ihn persönlich ist es aber einfach sehr bitter.

Das heißt, Groetzki wird vor allem abseits des Feldes fehlen?

Ja, wir werden ihn vor allem als gestandenen Spieler vermissen, der den Jungen in Stresssituationen Ruhe geben kann. Aber sportlich, handballerisch werden wir die Lücke mit Timo und auch mit Christoph Steiner, dann vielleicht als zweiten Rechtsaußen, oder möglicherweise Lukas Zerbe, meinem Spieler, schließen können. So viel Qualität Patrick auch hat, da sind wir gut aufgestellt auf der Position.

Lukas Zerbe haben Sie gerade angesprochen, er spielt unter Ihnen in Lemgo und ist jetzt einer der Nachrückerkandidaten. Wussten Sie schon im Vorfeld Bescheid oder kam das überraschend?

Wir haben eine gute Kommunikation, ich verstehe mich sehr gut mit Alfred und auch mit Erik Wudtke, dem Co-Trainer, und das geht dann oft auf dem kurzen Dienstweg. Nachdem klar war, was mit der Verletzung ist, habe ich kurz mit Erik telefoniert. Dann hat uns der DHB mitgeteilt, wie sie vorgehen wollen. Bei einer Heim-EM macht es auch Sinn, den Kreis so zusammenzuhalten, wie es in der Vorbereitung war, und wenn es dann Not tut, kann ein Spieler nachrücken, weil die Wege nicht weit sind. Lukas kann bei uns sicherlich noch besser Handball trainieren als in einem Turnier, wo es eigentlich nur um Spielvorbereitung geht.

Zerbe ist einer, der nachrückten könnte, andere Spieler von Ihnen sind sicher bei der EM dabei. Verfolgen Sie diese Partien mit einem besonderen Augenmerk?

Ja, natürlich. Ich gucke wahrscheinlich nicht alle Spiele der EM, aber ich werde sehr viel verfolgen - natürlich Österreich, Schweiz, Holland, und auch die deutschen Spiele vermehrt gucken, aber auch andere Spiele anschauen. Der Handballkonsum, der eh schon hoch ist, wird während der EM nochmal einen Peak erlangen.

Die Bundesliga hat wegen der EM gerade Pause, am 8. Februar geht es für Sie mit dem Spiel gegen Erlangen weiter. Wie läuft der Start in die Vorbereitung?

Wir hatten jetzt die Winterpause und starten in eine etwas kürzere Vorbereitung für die zweite Saisonhälfte. Natürlich fehlen uns ein paar Spieler, aber mit unserer zweiten Mannschaft, dem Team Handball, ist es immer so, dass wir dann auch Einheiten zusammen machen können. Deswegen haben wir gute Voraussetzungen, um auch ein gutes Training leiten zu können.

In der Liga geht es zur Halbzeit noch verhältnismäßig knapp zu. Was sind Ihre Ziele für den Rest der Saison?

Ich denke, man braucht gar nicht über irgendwelche Ziele mit Blick auf eine Tabellenplatzierung sprechen. Es geht einfach darum, zu versuchen, jedes Spiel zu gewinnen oder zu punkten. Wir wissen, dass es nach unten sehr knapp ist. Wir wissen aber auch, dass es nach oben sehr, sehr knapp ist. Zwischen Platz 17 und Platz sechs sind es nur sechs Punkte Unterschied. Da geht es darum, Ruhe zu bewahren, gute Leistungen zu bringen, zu punkten, und bis zum letzten Spieltag alles zu geben - so wie es eigentlich in den letzten Saisons auch immer war.

Über den Gesprächspartner

  • Florian Kehrmann (Jahrgang 1977) ist ein ehemaliger deutscher Handballspieler. Mit der Nationalmannschaft wurde er 2003 Vize-Weltmeister, vier Jahre später gewann er dann den WM-Titel in Deutschland. Dazu gewann 2004 die EM sowie Silber bei den Olympischen Spielen in Athen. Mit dem TBV Lemgo gewann er als Spieler etliche Titel - unter anderem die Meisterschaft, den DHB-Pokal sowie den EHF-Pokal. Im Mai 2014 beendete Kehrmann seine Spielerkarriere, seit Dezember 2014 ist er Cheftrainer der Lemgo-Profis in der Bundesliga. Sein bislang größter Erfolg als Trainer ist der DHB-Pokalsieg 2020.
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