Lionel Messi hat Argentinien nun bereits zum zweiten Mal in ein WM-Endspiel geführt. Den Fans in seiner fußballverrückten Heimat würde ein Triumph bei dieser Weltmeisterschaft viel bedeuten - nicht zuletzt auch ihrem Helden zuliebe. Erleben wir am Sonntag die Heiligsprechung des Lionel Messi?

Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Günter Klein dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Am Tag des Finales der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 teilte ich mir in Rio de Janeiro auf dem Weg Richtung Maracana-Stadion ein Taxi mit zwei Argentiniern. Ich konnte schon wegen der ständig um meinen Hals baumelnden Journalisten-Akkreditierung nicht verbergen, dass ich Deutscher bin. Also der Endspielgegner in ein paar Stunden. Die beiden argentinischen Männer waren Fans, extra angereist, sie wollten Geschichte miterleben: Ihre Albiceleste würde nach 1978 und '86 endlich wieder Weltmeister werden.

Argentiniens Fußball-Ikonen werden unsterblich

Ich bemühte mich, nett zu sein, relativierte das 7:1 der Deutschen im Halbfinale gegen Brasilien, erzählte, dass ich aus München komme und von dort Martin Demichelis gut kenne, der im Finale ja für Argentinien auflaufen werde. Ich sagte, dass ich Demichelis für einen "netten Menschen" halte, bekam aber den Eindruck, dass "nett" nicht das Prädikat ist, das ein argentinischer Fan auf einen seiner Nationalspieler angewendet wissen will. Nette Typen gewinnen nichts, sie wollten biestige Vertreter ihres Landes.

Ich bot beim Aussteigen aus dem Taxi an, die Rechnung zu übernehmen, weil ich auf Dienstreise war, die Quittung einreichen konnte und diese Fahrt ohnehin gebraucht hatte. Sie lehnten ab. Von einem Deutschen wollten sie sich nun wirklich nicht aushalten lassen. Wir teilten die Rechnung, gingen getrennte Wege, Argentinien wurde Vizeweltmeister.

Das Besondere an den Gauchos: Sie wurden von ihren Fans nie im Stich gelassen. Auch wenn es überhaupt nicht lief wie 1994, als der Spieler Diego Maradona hochgedopt von der WM ausgeschlossen wurde, oder 2010 unter einem Trainer Diego Maradona, der mit seiner Aufgabe schlicht überfordert war.

Gerade Maradona wurde alles nachgesehen, es gründete sich Ende der 90er-Jahre eine Kirche Maradonas. Die Taufe bestand darin, dass, wer aufgenommen werden wollte, Maradonas Hand-Gottes-Tor 1986 gegen England nachstellen musste. Ironie war da nur bedingt im Spiel; 2018 in Russland sah ich, wie die Maradona-Gläubigen am Zaun des Moskauer Spartak-Stadions ihre Zeichnungen, Bilder und Glaubensbekenntnisse anbrachten.

Mit Hilfe aus dem Jenseits zum Titel?

Lionel Messi mag unter der Überfigur Maradona gelitten haben. Im Nationalteam war er nie der Spieler, der er bei Barcelona war. 2010 und 2014 hätten seine besten Turniere werden können; er prallte an den Deutschen ab, im Finale von Rio kämpfte ihn der rustikale Bastian Schweinsteiger nieder.

Was Messi 2022 spielt, ist ein Wunder. Vor sechs Jahren war er aus der Nationalmannschaft zurückgetreten, eine Affekthandlung aus Enttäuschung, er machte die Entscheidung rückgängig. 2021 gewann er die Copa America, sein erster Nationalspieler-Titel. Jetzt ist er ein Spieler voller Freude, ein bärtiger und stämmiger Mann, dem man seine 35 Jahre ansieht, aber der gut platziert wirkt unter vielen jungen Mitspielern. Er wirkt wie der gütige Vater, der staunend Anteil nimmt an der Freude des Kollektivs.

Diego Maradona ist gestorben, aber nicht gänzlich tot. Obwohl Lionel Messi aufgrund seines aktuellen Erfolgs derzeit wieder als GOAT (Greatest Of All Times) gehandelt wird: Maradona schwebt weiter über ihm. "Hat uns Diego von oben geholfen?", fragte ihn neulich eine argentinische Reporterin. Messi sagte pflichtbewusst: "Das hat er getan. Diego pusht uns." Noch einmal am Sonntag.

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