Jahrhunderttalent, Özil-Ballack-Klon, kommender Weltstar: Kai Havertz eilt ein Ruf wie Donnerhall voraus. Umso überraschender, dass Bundestrainer Joachim Löw noch nicht voll auf den derzeit besten deutschen Fußballspieler setzt.

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Es ist nicht immer ein Vorteil, seiner Zeit deutlich voraus zu sein. Kai Havertz hat das im Sommer spüren müssen.

Die deutsche U-21-Nationalmannschaft ist da in Italien und San Marino bis ins Finale der Europameisterschaft gestürmt, Spieler Luca Waldschmidt, Marco Richter oder Florian Neuhaus zeigten sich dabei einer sehr breiten, sehr interessierten Öffentlichkeit von ihrer besten Seite. Kai Havertz verfolgte die Spiele vermutlich von irgendeiner Couch aus.

Bundestrainer Joachim Löw und U-21-Trainer Stefan Kuntz waren im Vorfeld übereingekommen, dass Havertz nicht mit "seiner" Mannschaft am Endturnier teilnehmen, sondern stattdessen die A-Nationalmannschaft in der EM-Qualifikation unterstützen sollte. Das galt im Übrigen auch für fünf weitere Spieler, die alle spielberechtigt gewesen wären für diesen Jahrgang, von dem es nicht nur hinter vorgehaltener Hand heißt, es wäre auf Sicht der letzte wirklich herausragende des Deutschen Fußball-Bundes.

Havertz verpasste also die EM, weil er bei den "Großen" weilte. Weil er ja so verdammt gut ist und so weit in seiner Entwicklung, dass ihn der Bundestrainer sofort an die A-Nationalmannschaft binden wollte für die Spiele gegen Weißrussland und Estland. Deutschland gewann standesgemäß beide Partien, fuhr 10:0 Tore ein. Aber Havertz schaute nur zu. Der Leverkusener spielte keine einzige Minute.

Havertz holt ein Rekord nach dem anderen

Dabei wurde Havertz doch zum Rekordjäger und -brecher der Bundesliga. Er war mit 17 Jahren und 126 Tagen der jüngste Debütant in der Geschichte seines Klubs, keiner vor ihm hat in so jungen Jahren die 50-Spiele-Marke in der Bundesliga geknackt. 2018 schnappte er sich die Fritz-Walter-Medaille in Gold, in der letzten Saison landete er mit 17 Toren (und vier Assists) die nächste Bestmarke für einen Teenager in der Bundesliga, 250 seiner Berufskollegen wählten ihn deshalb im Sommer zum Spieler der Saison.

Weil er sich eben auch sofort als Spieler für die wichtigen Momente entpuppte: Neun Mal schoss er Bayer mit 1:0 in Front, jeder seiner elf Treffer in der Rückrunde bedeutete eine Führung für die Werkself. In Europa gab es keinen anderen seiner Altersklasse, dem 17 Tore oder mehr gelangen. Auch nicht den anderen Wunderkindern Kylian Mbappe und Joao Felix.

Völler erkennt ein "Jahrhunderttalent"

Sein Geschäftsführer bei Bayer Leverkusen hat im mittlerweile 20-Jährigen nichts Geringeres als ein "Jahrhunderttalent" ausgemacht. "Er ist schnell, ausdauernd, kopfballstark, robust, technisch perfekt, sein Spielverständnis ist überragend, und er denkt auch noch defensiv. Er macht Dinge mit einer Leichtigkeit, die bei anderen nach harter Arbeit aussehen. Er ist ganz klar der deutsche Spieler der kommenden zehn Jahre", sagte Rudi Völler in einem Interview mit dem "Kicker" und stellte noch einen Vergleich an, der es wohl ganz gut zusammenfasst.

"Ich finde, er stellt so einen Mix aus Michael Ballack und Mesut Özil dar: Vom Laufstil und der Eleganz wirkt er wie Özil, von der körperlichen Entwicklung, der Robustheit, der Kopfballstärke und der Torgefährlichkeit wie Michael in seinen Topjahren."

Ein Özil-Ballack-Klon, zwei der prägenden Figuren der letzten zwei Dekaden in der deutschen Nationalmannschaft - mit so einem sollte der oft und gerne proklamierte Umbruch doch ganz gut von der Hand gehen, sollte man meinen.

Aber in keinem der beiden sehr wichtigen Qualifikationsspiele gegen die Niederlande und Nordirland beorderte Joachim Löw den Spieler zuletzt in die Startformation. Zu Löws Verteidigung seiner Maßnahmen muss man sagen, dass es der Bundestrainer selbst war, der schon im Sommer vor dem ganz großen Havertz-Hype gewarnt hatte.

"Bei ihm habe ich mich nach dem ersten Training gefragt, ob er schon ein oder zwei Jahre bei uns wäre. Das habe ich zuvor ganz, ganz selten bei einem Spieler gesehen. Er wird aber noch einige Hindernisse überspringen müssen, und die sind hoch!" Er habe in seiner Zeit beim DFB schon viele junge Spieler gesehen, die hochgepusht und hofiert wurden und die dann erst Talsohlen durchschreiten mussten, bis sie zu großen Spielern wurden. "Manch andere, die ebenfalls hochtalentiert waren und hoch gehandelt wurden, sind in diesen 15 Jahren nach ein paar Länderspielen nicht mehr aufgetaucht."

Löws Dilemma mit Havertz

Löws Zurückhaltung in der Causa Havertz ist auf der einen Seite absolut nachvollziehbar, der Bundestrainer möchte den Spieler offenbar nicht zu schnell an zu große Aufgaben heranführen und damit Erwartungen wecken, die Spieler in diesem Alter in der Regel noch nicht nachhaltig erfüllen können. Havertz' famose Stressresistenz passt unter Umständen noch nicht so sehr in diesen neuen deutschen Fußball, der deutlich mehr auf Gegenpressen und Umschalten ausgerichtet ist, also darauf, den Gegner selbst zu stressen.

Andererseits ist er der derzeit wohl beste, weil kompletteste deutsche Fußballspieler - der aber in einer sich suchenden Mannschaft noch keinen Platz findet. Rekordnationalspieler Lothar Matthäus forderte nach dem ernüchternden 2:4 gegen die Niederlande einen Startelfeinsatz von Havertz im dadurch noch wichtiger gewordenen Spiel gegen Nordirland in Belfast (2:0) und war mit seiner prominenten Meinung wohl nicht allein. Stattdessen hielt Löw aber unter anderem an Toni Kroos als Sechser fest, der im Zusammenspiel mit Joshua Kimmich erneut wenig harmonierte. Und stellte Marco Reus auf die Zehn, wo dieser erneut eine unterdurchschnittliche Leistung bot.

Löw sieht sich seitdem einiger Kritik im Umgang mit Havertz ausgesetzt, ganz Verwegene fürchten sogar einen "zweiten Fall Sane". Den hatte Löw trotz unübersehbarer Qualitäten aus dem Aufgebot für die WM im vergangenen Jahr gestrichen. Eine Entscheidung, die dem Bundestrainer nach dem Totalcrash in Russland prompt vor die Füße flog. Trotzdem verteidigt Löw seine Maßnahme auch in diesem Fall. "Ich weiß genau, was Kai Havertz kann und welche Qualitäten er hat. Er hat ja nicht umsonst zwei U-Teams übersprungen und ist von der U19 direkt zu uns gekommen. Bei ihm geht es uns auch darum, ihn behutsam aufzubauen und zu integrieren. Auch ein Leroy Sané brauchte in der Nationalmannschaft seine Zeit, die jetzt bei ihm gekommen ist", sagt Löw der "Bild".

Die EM ist sein klares Ziel

Der Spieler selbst bleibt - wie immer - nach außen völlig unbeeindruckt von allen Spekulationen. Weder die angeblichen Avancen europäischer Spitzenklubs, noch die jetzt schon auf 100 Millionen Euro taxierte Ablösesumme oder die dauernden Vergleiche mit Weltstars machen Havertz nervös oder zu einem anderen Menschen. Auch den Wirbel um seine Person in der Nationalmannschaft kann Havertz offenbar nicht ganz nachvollziehen.

Er wolle doch nur der Mannschaft helfen bei seinen Einsätzen. "Ich bin noch sehr jung und kann noch viel lernen", sagte er ausgesprochen diplomatisch am RTL-Mikrofon. "Es gibt Spieler in der Mannschaft, die schon viel mehr als ich erreicht haben. Wenn ich reinkomme, gebe ich Gas, um künftig vielleicht das eine oder andere Spiel von Anfang zu machen."

Kai Havertz selbst neigt offenbar nicht dazu, sich größer oder wichtiger zu machen, als er ist. Das Ziel, spätestens im nächsten Jahr bei der EM aber ein fester Bestandteil der Nationalmannschaft zu sein, hat er trotzdem, wie er in einem Interview mit "spox.com" verriet. "Dann bin ich 21. In diesem Alter kann man schon die Ambition haben, bei einer Europameisterschaft dabei zu sein."

Mit einem Jahr Verspätung wäre er dann endlich bei seinem ersten großen Endturnier angekommen.

Verwendete Quellen:

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