Die Defensive passte gegen die Polen - dafür gab es in der Offensive viel zu bemängeln. Die deutsche Nationalmannschaft hat noch einige Probleme aufzuarbeiten. Dazu müssen wichtige Leistungsträger aber langsam ihre Form wiederfinden.

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Man hätte es eigentlich wissen müssen: Die deutsche Nationalmannschaft und das zweite Spiel eines großen Turniers - das passt einfach nicht zusammen. In den letzten 20 Jahren haben deutsche Teams in elf Versuchen nur läppische drei Spiele gewonnen, das 0:0 gegen Polen bei der EM 2016 war also nichts als die logische Fortsetzung einer merkwürdigen Serie.

Und doch war es mehr als das. Die deutsche Nationalmannschaft, der Weltmeister, scheint immer noch nicht richtig angekommen in diesem Turnier. Die Last-Minute-Franzosen und -Engländer hatten bereits ihre Erweckungserlebnisse, Italien scheint voll da zu sein, die Spanier ohnehin.

Aber was nun von dieser deutschen Mannschaft zu erwarten ist? Das konnte auch das zweite Spiel dieser Europameisterschaft nur bedingt beantworten.

Gegen die Ukraine hatte das Team seine besonderen Momente in der Offensive. Nicht im Überfluss, aber sie waren da. Dagegen war die Defensivbewegung der kompletten Mannschaft nicht flüssig und geordnet genug.

Diese Unwucht galt es in der Partie gegen die Polen in etwa ins Gleichgewicht zu bekommen. Herausgekommen ist ein Spiel, in dem sich Deutschland defensiv stark und in der Offensive erstaunlich schwach zeigte.

Klare Worte von Jerome Boateng

"Wir haben gut ins letzte Drittel kombiniert. Aber da haben wir immer wieder den Fehler gemacht, das Tempo aus den Aktionen herauszunehmen - statt es zu erhöhen", sagte Joachim Löw nach dem Spiel. Der Bundestrainer wirkte nachdenklich. "Wir haben dann zu wenige Lösungen gefunden, es hat der letzte Pass gefehlt."

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Deutlicher formulierte es Jerome Boateng. "Wir haben keine Eins-gegen-Eins-Duelle gewonnen im letzten Drittel. Wir haben uns zu wenig bewegt und können froh sein, dass wir 0:0 gespielt haben. Wir müssen mal zum Abschluss kommen. Wir spielen gut ins letzte Drittel, kommen dann aber nicht am Gegner vorbei. Das müssen wir verbessern, sonst kommen wir nicht weit!"

Dem besten Spieler auf dem Platz muss man solche schroffen Worte zugestehen. Die Worte des Abwehrchefs sollen vielleicht gar keine Kritik sein, wachrütteln sollen sie definitiv.

Was ist mit Thomas Müller?

Auch gegen die Polen schien es, als hätten wichtige Leistungsträger des Teams noch nicht ihren Rhythmus gefunden. Benedikt Höwedes blieb als rechter Verteidiger in der Offensive limitiert und ist auf dieser Position nicht mehr als eine 1B-Lösung.

Mario Götze genoss erneut Löws Vertrauen und durfte erst in der Spitze, später auf dem Flügel ran. Viel (Lauf-)Aufwand, sehr wenige Offensivszenen - mehr ist nicht gewesen.

Julian Draxler hat offenbar immer das Besondere im Sinn. Der Wolfsburger verheddert sich dann immer wieder, verschleppt das Tempo und verliert im Dribbling den Ball.

Mesut Özil ging mit der Vorleistung des besten Vorlagengebers der Premier League ins Turnier, Löw bescheinigte seinem feinsten Offensivspieler eine außerordentlich starke Form. Bloß laufen die Spiele bisher fast komplett an Özil vorbei. Nur eine gute Aktion pro 90 Minuten ist zu wenig für einen Spieler seiner Klasse.

Und was ist eigentlich mit Thomas Müller los? Der Münchener, oft unorthodox und eigenwillig in seinem Spiel, hatte bisher kaum Szenen. Es kommt schon mal vor, dass Müller ein Ball verspringt oder ein Dribbling misslingt. Aber dass er nahezu keine Torgefahr ausstrahlt, ist eine Neuerung.

Das Offensivquartett wirkte bei eigenem Ballbesitz nicht gut aufeinander abgestimmt und mit zu wenig Verbindung zueinander.

Jogi Löw macht sich keine Sorgen

"Vorne haben wir die Bälle oft schlecht kontrolliert, dann ist es natürlich schwer zu Torchancen zu kommen. Wir sind zwei- bis dreimal gut durchgekommen, aber ganz vorne hat heute bisschen was gefehlt", sagte Toni Kroos - auch so einer, der immer mehr in die Rolle des Anführers wachsen will.

Drei Schüsse aufs Tor wurden am Ende notiert, nur einer davon von innerhalb des Strafraums abgegeben. Auch das ist eine ungewöhnliche Statistik für die deutsche Mannschaft.

Aber wie sind die Leistungen Einzelner einzuordnen? Als Trend? Als Ausrutscher? "Um Özils und Müllers Form machen wir uns gar keine Sorgen. Beide haben überragende Qualitäten. Heute haben sie ein bisschen glücklos agiert, das wird sich aber wieder ändern", ist sich Löw sicher. "Wir haben jetzt einen Tag mehr Pause. Da können wir gerade in der Offensive wieder einiges trainieren."

Die deutsche Mannschaft hat sich bisher als zweigeteiltes Team präsentiert, mit jenen, die ihre gewohnte Leistung abrufen und der anderen Hälfte, die noch auf der Suche ist. Die Trainingsarbeit in den Tagen nach dem Ukraine-Spiel war unverkennbar auf die Verbesserung defensiver Abläufe ausgerichtet.

Die Arbeit hat gefruchtet, die konterstarken Polen bekamen nur eine richtig große Torchance aus einem Umschaltmoment. Und das Tandem Boateng-Hummels bekommt die nötige Zeit, um sich einzuspielen.

Selbstgefällige Offensive

Die Selbstgefälligkeit in der Offensive gilt es nun so schnell wie möglich auszutreiben. Die Flanken, wie weder von Höwedes noch von Jonas Hector mit dem nötigen Zug und der erforderlichen Präzision geschlagen wurden, sollten in der Form ganz schnell wieder aus dem Repertoire gestrichen werden.

Joachim Löw hat die EM als ein zweigeteiltes Turnier beschrieben, unterteilt in eine lösbare Gruppenphase und eine deutlich kniffligere K.o.-Phase. Er benötige dafür zwei Mannschaften, ließ Löw wissen.

Und das ist die gute Nachricht: Deutschland wird sich gegen Nordirland ziemlich sicher für das Achtelfinale qualifizieren, "wir werden da das nötige Ergebnis holen", versprach Löw.

Es ist also noch ein bisschen Zeit für den einen oder anderen, sich an seine Topleistung heranzupirschen. Die meisten kennen das aus den Spielen in der Champions League. Da gilt die Gruppenphase für die Spieler der Top-Klubs als bessere Aufwärmphase, erst im Frühjahr wird es dann ernst. Im Kleinen kann man sich das nun für die EM vorstellen.

Vielleicht gelingt gegen die Nordiren ja die Wende. Es würde zur guten Serie bei den entscheidenden, dritten Gruppenspielen passen. Lediglich zweimal in den letzten 20 Jahren flog Deutschland nach einer Niederlage im letzten Gruppenspiel aus dem Turnier. Die missratenen zweiten Spiele konnten der Mannschaft nur selten etwas anhaben.

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