Bereits am zweiten Spieltag geht der Streit über den Videobeweis in der Fußball-Bundesliga wieder von vorne los. Das Dauerthema hält also auch in der nun dritten Saison des technischen Hilfsmittels an, aber weshalb eigentlich? Wir analysieren die zentralen Probleme des Videobeweises und stellen ihn drei anderen Sportarten gegenüber. Ein Vergleich – mit Lösungsansätzen.

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Die neue Bundesliga-Saison hatte noch nicht angefangen, da war die Dauerdiskussion der vergangenen Jahre wieder entfacht: Grund war ein Tritt mit dem Fuß von Joshua Kimmich im Supercup gegen BVB-Flügelstürmer Jadon Sancho, für den der Bayern-Verteidiger die Gelbe Karte gesehen hatte. Zu wenig, wie auch im Nachgang Jochen Drees einsah, der Leiter des DFB-Projekts Videobeweis.

Und auch mit Beginn der Bundesliga ging der Streit über den Videobeweis wieder los: Bereits am zweiten Spieltag gab es heftige Debatten, wieso sich der Video-Assistent im Spiel zwischen Schalke und Bayern nach zwei mutmaßlich strafbaren Handspielen der Bayern nicht einschaltete.

Kurzum: Der Videobeweis bleibt in der Fußball-Bundesliga ein großes Streitthema - während er in anderen Sportarten seit Jahren erfolgreich eingesetzt wird. Die Frage ist: Was läuft etwa im Eishockey oder American Football besser?

Wir haben mit dem ehemaligen Schiedsrichter und Experten Alex Feuerherdt die Probleme der Bundesliga analysiert und mit Experten aus dem Hockey (der Videobeweis wird auf internationaler Ebene verwendet), Eishockey und American Football den Mechanismus Videobeweis hinsichtlich vier zentraler Probleme verglichen.

Problem 1: Wer greift ein – und wann?

In der Bundesliga kommuniziert der Schiedsrichter auf dem Feld mit dem Video Assistent Referee (VAR), der als zusätzlicher Assistenz-Schiedsrichter eingesetzt wird. Die Hoheit über die Entscheidungen auf dem Platz hat der Schiedsrichter des Spiels.

Beim Fußball sind weder Spieler noch Trainer an der Entscheidungsfindung beteiligt. Ein Nachteil, findet Hans-Werner Sartory. Die Hockey-Schiedsrichter-Legende hält es für sinnvoll, dass Spieler den Videobeweis fordern dürfen – wie im Hockey.

"Die Mannschaft wird sich sehr sicher sein, wenn sie den Videobeweis nimmt", sagt Sartory. Liegt sie falsch, darf sie für den Rest des Spiels keinen Videobeweis mehr fordern. Die Spieler legen nur dann Einspruch ein, wenn sie um den Fehler sicher wissen.

Im American Football dürfen die Trainer in bestimmten Fällen den Beweis fordern - und zwar pro Spiel höchstens dreimal. Wirft der Coach die "Challenge Flag", überprüfen die Schiedsrichter den Spielzug auf dem Bildschirm. "Der Coach muss wissen, was er tut", sagt Football-Experte und "ranNFL"-Kommentator Volker Schenk, denn liegt der Trainer falsch, verliert sein Team ein Timeout. "Diese Einzel-Entscheidungen können am Ende spielentscheidend sein."

Im Eishockey dürfen Schiedsrichter-Supervisor ab den Liga-Playoffs eingreifen. "Die letzte Entscheidung trifft aber der Schiedsrichter des Spiels", sagt Schiedsrichter-Obmann Gerhard Lichtnecker vom Deutschen Eishockey-Bund.

Fazit: In der Bundesliga wird mit dem Video Assistent Referee ein weiterer Unparteiischer bei der Entscheidungsfindung gefragt. Im Hockey und American Football lassen die Schiedsrichter die Betroffenen mitreden.

Um sicherzustellen, dass Spieler im Hockey richtig liegen, wird ihnen eine neue Chance verwehrt, wenn sie falsch liegen. Im Football wird eine Falscheinschätzung des Trainers mit einem Auszeit-Verlust bestraft.

Problem 2: Subjektive und objektive Entscheidungen – mit welchem Maß wird beurteilt?

In der Bundesliga wird der Videobeweis bei Tor-Entscheidungen, bei Strafstößen, Roten Karten und Verwechslungen von Spielern zu Hilfe genommen. Die Frage nach Toren und Spielern kann eindeutig beantwortet werden. Hitzig wird es bei Ermessensentscheidungen.

"Es gibt klare Schwarz-Weiß-Entscheidungen, da gibt es auch keinen Streit", erklärt Feuerherdt. "Aufregung gibt es erst bei den subjektiven Entscheidungen." Dazu zählen Foulspiele, Handspiele, Abseits-Regelungen."

Das bemängelt auch Hockey-Referee Sartory: "Foulspiel ist eine subjektive Sache", sagt er. Ähnlich sieht es Volker Schenk. "Wann ist es ein Foul? Wann ist es kein Foul? Die Regeln sind nicht so klar wie beim Football."

Auch im Eishockey wird nur bei Tatsachen-Entscheidungen eingegriffen. "Es geht nur um den Torbereich, nicht um Abseits oder andere Situationen", sagt Lichtnecker. (Anm. d. Red.: Dies gilt für die DEL und die meisten weiteren Ligen des Weltverbands IIHF. Die separat agierende NHL bietet auch die Möglichkeit, per Coach's Challenge unter anderem Abseitsentscheidungen überprüfen zu lassen.)

Fazit: Der Videobeweis in der Bundesliga kommt bei "Schwarz-Weiß-Entscheidungen" und bei stark subjektiven Wahrnehmungen zum Einsatz. Viele Entscheidungen werden von verschiedenen Menschen unterschiedlich bewertet.

"Das Regelwerk bietet sehr viel Spielraum", erklärt Feuerherdt das zentrale Problem. Und: "Der, der vor dem Video sitzt, ist auch nur ein Mensch", ergänzt Sartory.

Problem 3: Der Videobeweis regelt zu viel im Fußball

Foulspiele, Tor-Regelung, Abseits-Regelung, Verwechslungen: Greift der Videobeweis in der Bundesliga in zu viele Situationen ein? "Ich glaube, dass man im Fußball den Bogen überspannt hat", sagt Sartory. "Ich glaube, dass der Videobeweis im Fußball zu vollgepackt ist."

Der Nebeneffekt: Viele Situationen bringen viele Diskussionen mit sich. "Viel Zeit vergeht durch den Videobeweis", sagt Volker Schenk – und meint Football und Fußball. "Das Spiel ist heute nicht mehr so flüssig", sagt Schenk.

Ein Nachteil. "Denn rein theoretisch kannst du bei jedem Play eine Flagge werfen." Auch im Hockey habe man anfangs zu lange gebraucht, erzählt Sartory.

Fazit: Durch die vielen Spielsituationen, in denen der Videobeweis in der Bundesliga eingreifen darf, wird das Regelwerk schnell unübersichtlich. Die Unterbrechungen sorgen vor allem bei den Fans für Unmut.

Im Hockey und Eishockey ist klar geregelt, wann und wo der Videobeweis hinzugenommen werden darf. Im Hockey darf der Videobeweis nur im Schusskreis verwendet werden. Allerdings sind Spielunterbrechungen auch in anderen Sportarten ein Problem.

Problem 4: Die Intransparenz! Nicht nur die Fans wollen wissen, was passiert

Irren ist menschlich – das ist auch im Fußball-Zirkus jedem bewusst. Das eigentliche Problem: "Das Publikum würde einfach gerne wissen, was geschieht", sagt Feuerherdt. Die Experten aller drei Sportarten sind sich einig: Der Videobeweis in der Bundesliga ist zu intransparent.

In der Nachberichterstattung werden die Videoaufnahmen eingeblendet, der Zuschauer im Stadion tappt aber im Dunkeln. Auf den Stadion-Leinwänden wird bislang nur knapp erklärt, weshalb der VAR eingeschaltet ist. Laut Feuerherdt gibt es vonseiten des DFB und der DFL drei Gründe gegen Videobilder auf Stadion-Leinwänden.

"In erster Linie haben die Vereine Sicherheitsbedenken", erklärt er. Zudem seien die technischen Voraussetzungen nicht in jedem Stadion dieselben. Die Stadionregie liegt in den Händen der Vereine, das bedeutet, die DFL hat keinen Zugriff auf die Videowände in den Bundesliga-Stadien.

Für Sartory zählen die Argumente der DFL nicht. "Auch wir im Hockey haben das geschafft. Der Fußball hat technisch und finanziell viel mehr Möglichkeiten." In der NFL erklären die Schiedsrichter via Mikrofon die Entscheidung. So auch im Eishockey. "Jedes Vergehen wird vom Referee an den Sprecher weitergegeben. Er sagt das Urteil in der Halle durch", erklärt Lichtnecker.

Die Bundesliga könne sich laut Feuerherdt an der niederländischen Liga orientieren. "In den Niederlanden läuft die Aufarbeitung besser", sagt er. In der Eredivisie gibt es einen YouTube-Channel für Schiedsrichter, die nach den Spielen die diskussionswürdigen Szenen erklären und das "VAR Replay" einspielen. "Jeder Fan kann hinterher schauen, warum so entschieden wurde."

Fazit: "Man müsste die Fans im Fußball mehr abholen", sagt NFL-Experte Schenk und trifft den wunden Punkt. Insbesondere die Fans im Stadion erfahren meist erst über TV-Highlights, weshalb und wie der Videoschiedsrichter eingegriffen hat – oft nicht zufriedenstellend.

Hockey, American Football und die Eredivisie liefern Lösungsansätze, die sich DFL und DFB zu Herzen nehmen könnten.

Anfang August stellte Drees die Änderungen im Video-Beweis zur neuen Saison vor. Unter anderem soll die Kamera näher an den Videoassistenten rücken, um dessen Entscheidungen besser nachvollziehen zu können.

"Es ist naiv, dass man beim Fußball denkt, alles funktioniert sofort", sagt Sartory. Heute gebe es viel weniger Fehlentscheidungen als vor zwei Jahren, sagt auch Feuerherdt. Die Bundesliga müsse weiter Erfahrungen sammeln. So verstummen auch die Diskussionen.

Verwendete Quellen:

  • Interviews mit Alex Feuerherdt, Volker Schenk und Hans-Werner Sartory, Gerhard Lichtnecker
  • DFL.de: Fragen und Antworten zum Video-Assistenten
  • Spiegel.de: Extrem-Videobeweis in den Niederlanden
  • YouTube-Kanal der Eredivie
  • Spox.com: NFL: Was steckt hinter den bunten Flaggen?
  • Deutschlandfunk: Videobeweis für Zuschauer
  • Sportschau.de: Video-Assistent verhindert 40 Fehler
  • Sportschau.de: Die wahren Probleme beim Videobeweis
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