Obwohl der BVB in Paderborn deutlich gewinnt, gibt es Diskussionen über einen Handelfmeter gegen die Schwarz-Gelben. Denn das Handspiel von Emre Can erinnert stark an das von Jérôme Boateng zuletzt in Dortmund - nur wurde da nicht gepfiffen. Hätte der VAR also einschreiten müssen?

Alex Feuerherdt, Schiedsrichter
Eine Kolumne

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Nicht wenige Spieler, Verantwortliche und Fans von Borussia Dortmund dürften in der 70. Minute des Spiels ihrer Mannschaft beim SC 07 Paderborn ein echtes Déjà-vu erlebt haben.

Da nämlich unterlief Emre Can im eigenen Strafraum ein Handspiel, das dem des Münchners Jérôme Boateng am vergangenen Dienstag beim 1:0-Sieg des FC Bayern in Dortmund auffällig ähnlich war.

Hier wie dort warfen sich die Spieler bei einem Torschuss des Gegners aus kurzer Distanz in den Weg, drehten sich dabei jedoch auch weg und wandten ihr Gesicht ab. Hier wie dort landete der Ball an dem Arm, mit dem sie Schwung für die Drehung nahmen, weshalb die Kugel nicht aufs Tor kam.

Die Entscheidungen der Schiedsrichter fielen jedoch konträr aus: Tobias Stieler bewertete in Dortmund das Handspiel als nicht strafbar und ließ die Begegnung mit einem Eckstoß fortsetzen.

Sein Kollege Daniel Siebert hingegen gab in Paderborn einen Elfmeter für die Gastgeber und außerdem die Gelbe Karte für Can wegen der Blockade eines Torschusses.

Bei Boateng sprach mehr für einen Elfmeter als bei Can

Gleich waren wiederum die Reaktionen der Video-Assistenten: Weder im einen noch im anderen Fall kam es nach dem Check in Köln zu einem On-Field-Review durch den Unparteiischen. Das heißt: Der Referee hatte keinen klaren und offensichtlichen Fehler begangen und auch nichts Schwerwiegendes übersehen.

Szenen, die sich ähneln, sind allerdings nie völlig identisch. Und so gibt es auch hier bei allen Gemeinsamkeiten erkennbare Unterschiede.

So war Cans gesamte Aktion klarer zum Ball orientiert, und das Handspiel war auch in der normalen Geschwindigkeit gut zu erkennen. Dafür stand Boatengs Arm etwas vom Körper ab, während Can seinen Arm angelegt hatte.

Alles in allem sprach bei Boateng mehr für ein strafbares Handspiel und damit für einen Elfmeter als bei Can, doch entschieden wurde genau umgekehrt.

Wenn so etwas innerhalb weniger Tage geschieht, die Erinnerung also noch frisch ist, kommen Fragen auf: Wie kann das passieren? Und kann der VAR so etwas nicht verhindern?

Wahrnehmung und Spielräume sind wesentlich für die Bewertung

Die vordergründig überraschenden Unterschiede in der Entscheidung ergeben sich letztlich durch die Unterschiede in der Wahrnehmung der jeweiligen Szene durch den Schiedsrichter in Echtzeit und aus einer einzigen Perspektive auf dem Platz.

Bei der Bewertung von Handspielen gibt es überdies - wie auch bei der Beurteilung von Zweikämpfen - weiterhin einen Ermessensspielraum, auch nach der Reform der betreffenden Regel vor dieser Saison.

Deshalb kann der Unparteiische, auch wenn das erst einmal paradox klingt, in vergleichbaren Szenen durchaus unterschiedlich entscheiden, ohne dass eine Entscheidung davon zwangsläufig falsch sein muss.

Klar, das führt zu Irritationen und Kritik, denn die Regelauslegung der Schiedsrichter sollte möglichst berechenbar sein. Es ist jedenfalls schwer zu verstehen, wenn ähnliche Szenen gegensätzliche Entscheidungen nach sich ziehen.

Man könnte hier sogar argumentieren: Wenn schon gegensätzlich, dann genau andersherum. Mit anderen Worten: Das Handspiel von Boateng war eher elfmeterreif als das von Can.

In jedem Fall aber gilt: Wenn man Boateng schon ungestraft davonkommen lässt, dann auch - und erst recht - Can.

Was der VAR soll - und was nicht

Wenn das aufgrund der situativen Wahrnehmung des Schiedsrichters auf dem Feld aber nicht geschieht, sollte sich dann nicht der VAR einschalten - um der Gerechtigkeit willen?

Dieser Gedanke ist erst einmal nachvollziehbar, schließlich sind die Video-Assistenten ja eine Korrekturinstanz.

Allerdings ist ihre Aufgabe eine andere: Sie sollen nur intervenieren, wenn der Unparteiische entweder einen klaren und offensichtlichen Fehler begangen oder einen schwerwiegenden Vorfall übersehen hat.

Weder sollen sie sich einschalten, um in einem Zweifels- oder Ermessensfall zur besseren Entscheidung beizutragen, noch sind sie dafür da, die Regelauslegung zu vereinheitlichen.

Wenn man das ändern will, dann muss man die Befugnisse des Video-Assistenten deutlich erweitern und seine Rolle - sowie die des Schiedsrichters - ganz neu definieren.

Es geht nicht darum, sämtliche Fehler zu tilgen

Außerdem würde das zu wesentlich mehr Eingriffen und damit zu deutlich mehr Spielunterbrechungen führen, denn die Eingriffsschwelle würde unweigerlich sinken. Als der VAR eingeführt wurde, gab es einen Konsens, dass man das nicht möchte, um den Spielfluss stärker zu beeinträchtigen als unbedingt nötig.

Der Video-Assistent ist ausdrücklich nicht geschaffen worden, um sämtliche Fehler und Ungereimtheiten bei Schiedsrichterentscheidungen aus der Welt zu schaffen.

Diskutieren lässt sich aber über die Ansicht, dass es ein klarer und offensichtlicher Fehler des Referees in Paderborn war, das Handspiel von Emre Can mit einem Strafstoß zu ahnden - völlig unabhängig vom Vergleich mit Boatengs Aktion.

Denn seinen Arm hatte Can recht eng am Körper geführt, es lag also keine Verbreiterung der Körperfläche vor. Er hatte den Arm auch nicht zum Ball bewegt. Bei sogenannten subjektiven Entscheidungen wie Foul- und Handspielen ist die Eingriffsschwelle für den VAR bewusst hoch, aber in diesem Fall sprach viel für einen Eingriff.

Dazu kam es jedoch nicht, was angesichts des Ergebnisses von 6:1 für Schwarz-Gelb letztlich von untergeordneter Bedeutung war. Klärungsbedarf besteht dennoch.

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