Genormte Gurken, gemeinsame Außenpolitik und Staatsschuldenkrise: Die Europäische Union nimmt immer mehr Einfluss auf das tägliche Leben und das Schicksal ihrer Mitgliedsstaaten. Doch obwohl es heute kaum noch einen Lebensbereich gibt, der nicht von der EU beeinflusst wird, dümpelt die Wahlbeteiligung auf einem niedrigen Niveau. Bürger klagen über zu wenig demokratische Mitbestimmung und überbordende Bürokratie. Was wäre nötig, um den Bürgern die EU wieder schmackhaft zu machen? Zwei Europa-Experten geben Antworten.

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Werner Weidenfeld, Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung (CAP) an der Ludwig-Maximilians-Universität München, hält zumindest einige der Kritikpunkte schlicht für falsch - zumindest, seitdem 2007 der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten ist. Vor allem die Kritik, dass die Europäischen Institutionen zu wenig demokratische Legitimation besitzen, sei inzwischen ungerechtfertigt.

"Mittlerweile hat das europäische Parlament mehr Einfluss auf die europäische Exekutive, als ihn etwa der Bundestag auf die deutschen Exekutiv-Institutionen hat." Vor allem das direkt gewählte europäische Parlament sei seit Lissabon deutlich gestärkt. Die Parlamentarier hätten nun nicht nur deutlich mehr Mitspracherecht, auch die Wahl des Kommissionspräsidenten sei ein wichtiger Schritt zu mehr Demokratie. Problematisch sei jedoch, dass das bisher von den Bürgern nicht genug wahrgenommen werde. "Für viele ist das immer noch zu weit weg und zu abstrakt."

Aber wer hat Schuld daran, dass die Europäer und ihre Union sich so missverstehen? Vor allem die Politiker selbst, meint der Professor. "Die Politik müsste sich viel intensiver dafür einsetzen, den Bürgern die Lage zu erklären", sagt Weidenfeld. Um mehr Anerkennung bei den Bürgern zu erreichen, müsse das Parlament lernen, sich besser zu präsentieren.

Gigantische Bürokratie und mächtige Lobbys

Ein gutes Beispiel für diese Probleme sei die Antrittsrede des EZB-Präsidenten Marion Draghi vor dem EU-Parlament gewesen: "Eigentlich ein höchst dramatischer Vorgang, der ganz Europa angeht: Die Währungspolitik wird vor dem Parlament gerechtfertigt", sagt Weidenfeld. Die ideale Gelegenheit, fundamentale Fragen zu stellen. Allerdings habe Europas oberster Finanzpolitiker vor einem fast leeren Plenum gesprochen. "Eine Lösung für solche Fälle wäre eine regelmäßig stattfindende Europadebatte, bei der alle da sind." Sein Fazit: Nur wenn solchen Ereignissen auch der nötige Stellenwert durch Politik und Medien eingeräumt wird, kann das Europa auch wahrgenommen werden.

Nicht nur Euro-Skeptiker erschaudern vor der gigantischen Bürokratie, die mit der Verwaltung von 500 Millionen EU-Bürgern einhergeht. In der Tat sehen die Experten wenig Hoffnung, dass es bei der Entbürokratisierung in den kommenden Jahren Durchbrüche geben wird. Im Schnitt würden derzeit pro Arbeitstag ein bis zwei Gesetze von der EU verabschiedet. "Das ist schon sehr viel", sagt Weidenfeld. Die EU müsse lernen, diese Regulierungswut in den Griff zu bekommen: "Es sollte tatsächlich öfter die Frage gestellt werden, ob für gewisse Dinge eine europaweit einheitliche Regelung unbedingt nötig ist."

Ein anderer wichtiger Schritt, um den Bürgern "ihr" Europa wieder näher zu bringen, seien zudem mehr Bürgerinitiativen - und eine deutlich bessere europäische Medienarbeit. "Bisher gibt es so gut wie keine europäisch organisierten Medien, das ist noch extrem ausbaufähig." Bisher hätten vor allem Wirtschaftsunternehmen den Trend in Richtung Europa verstanden - und mit der Stärkung der Lobbyarbeit in Brüssel darauf reagiert. "Das ist ein Indiz, dass diese Machtverschiebung durchaus wahrgenommen wird", sagte Weidenfeld. Eine Entwicklung, bei der die Öffentlichkeit bisher noch etwas hinterher hinkt.

EU bekommt zu oft den schwarzen Peter zugeschoben

Raphael Bossong, Politikwissenschaftler der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder sieht hingegen in der Pflege der Streitkultur den besten Weg aus der Starre: "In meine Augen ist es wichtig, in Zukunft deutlich mehr zu politisieren und den politischen Streit in den Vordergrund zu stellen, wie das zum Beispiel Martin Schulz macht", sagt er. "Ich glaube, dass es nötig ist, nicht immer nur alles gut zu finden, was die EU macht, sondern eine ständige politische Auseinandersetzung zu haben - wie es in den nationalen Parlamenten ja auch der Fall ist." Mehr Reibungspunkte könnten auch das Interesse der Bürger an der EU wieder stärken.

Teilweise liege das Problem aber auch an den Bürgern selbst, die sich manchmal zu schnell auf die Bierzeltreden mancher Politiker hereinfielen, die hausgemachte Probleme auf die EU schieben. Paradebeispiel sei Bayern: Dort hätten Politiker beim Politischen Aschermittwoch immer wieder lautstark eine EU-Verordnung kritisiert, die die Maße der Sitze von Traktoren festschreibe - als Beleg für die Regelungswut der EU-Bürokraten. "Dass die Initiative zu dieser Verordnung zur Arbeitssicherheit vom Freistaat Bayern selbst eingebracht wurde, wird dabei gerne unterschlagen."

So ist es nach Ansicht der Experten vor allem eine Frage der Zeit, dass die Qualitäten der Europäischen Union wahrgenommen werden - vorausgesetzt, dass die Erfolge auch adäquat an die Bürger vermittelt werden können. Denn einige wirklich wichtige Richtungsentscheidungen werden in den kommenden Monaten getroffen: Beispielsweise ob die EU-Wirtschaftspolitik in Zukunft eher einen neoliberalen Weg einschlagen wird oder ob die Sozialpolitik im Vordergrund stehen sollte.

Europa fehlt eine strategische Elite

Einig sind sich die beiden Experten, dass vor allem in der gemeinsamen Außenpolitik eine der wichtigsten, wenn auch schwierigsten Aufgaben für die Europäische Union liegt. "Es ist natürlich sehr schwer, die gesamten Interessen der Länder unter einen Hut zu bringen", sagt Bossong.

"Bisher fehlt Europa aber ganz klar eine strategische Elite", sagt Weidenfeld. "In dieser Hinsicht ist Europa gegenüber anderen Ländern wie den USA bisher unterbelichtet." Köpfe wie der bis heute aktiv tätige ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger fehlten auf der politischen Bühne in Europa. Zwar gebe es einige Politiker mit entsprechendem Potenzial - wie Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Aber für eine effektive strategische Arbeit sei mehr Personal nötig.

Die Frage, ob Europa überhaupt der Weg in die Zukunft ist, hat sich den Experten zufolge indes schon lange entschieden. "Ein einzelnes Österreich oder ein einzelnes Deutschland werden es mit Konkurrenten wie China oder Indien in einer globalisierten Welt immer schwerer haben", sagt Weidenfeld. Mit dem einzigartigen Projekt der Europäischen Union habe der Kontinent Neuland betreten. Fest stehe aber, dass nur ein geeintes Europa in einer globalisierten Welt mit Konkurrenten wie den USA, China oder Indien mithalten könne. Klar ist aber auch, dass das Experiment Europa vermutlich noch einige Reformen erleben wird - und erleben muss.

Was bei der Europawahl am 25. Mai 2014 gewählt wird

In Deutschland finden am 25. Mai 2014 die Wahlen für das Europaparlament statt. Zum achten Mal werden die Abgeordneten durch eine Direktwahl bestimmt. Seit Gründung der EU wurden die Machtbefugnisse des Parlaments stetig ausgebaut, zuletzt im Lissabonner Vertrag im Jahr 2007.

Im bisherigen Parlament sind Konservative und Sozialdemokraten die beiden stärksten Kräfte. Die konservativen Parteien haben fast doppelt so viel Sitze wie die Sozialdemokraten. Bisher ist keine europaskeptische aus der Bundesrepublik im Europäischen Parlament vertreten.

Durch den Wegfall der Drei-Prozent-Hürde bei den Wahlen in Deutschland werden unter anderem der bei Bundestagswahl abgestraften FDP als auch den Euroskeptikern der Alternative für Deutschland (AfD) realistische Chancen für einen Einzug ins EU-Parlament eingeräumt.

Das EU-Parlament wird alle fünf Jahre gewählt. Die Abgeordneten wählen auch den Präsidenten der Europäischen Kommission, der vom Europäischen Rat vorgeschlagen wird. Unter den fünf Bewerbern für das Amt sind gleich zwei Deutsche: Der derzeitige Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz (SPD) und die Grünen-Abgeordnete Ska Keller. Realistische Chancen werden aber nur Schulz eingeräumt.

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