Bluff oder ehrliches Angebot? Der türkische Präsident Erdogan drängt auf einen Neustart mit Berlin. Wie umgehen wir die Charmeoffensive aus Istanbul, fragte Maybrit Illner ihre Gäste. Die waren sich lange viel zu einig.

Eine Kritik

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Nichts eint so zuverlässig wie ein gemeinsames Feindbild – und nichts verwandelt eine Talkshow so todsicher in ein Schlafmittel wie genereller Konsens. So gesehen hätte sich Maybrit Illner die erste halbe Stunde ihres Talks zum Staatsbesuch von Recep Tayyip Erdogan sparen können.

Wie besorgte Sozialarbeiter diskutierten fünf Menschen, die sich weitestgehend einig waren, wie man denn am besten umgehen sollte mit dem bösen Buben. Interessant wurde es erst, wie so oft, als endlich ein Advokat für den Teufel gefunden war.

Das war das Thema bei Maybrit Illner

Drei Tage lang weilt der türkische Präsident in Deutschland, nichts weniger als ein Neustart der angespannten Beziehungen soll gelingen, wenn es nach Erdogan geht. In einem Gastbeitrag für die FAZ schrieb er von einer "neuen Seite", die aufgeschlagen werden müsse.

Umblättern löscht allerdings nicht abertausende Seiten des Fortsetzungsromans namens "Deutsch-türkisches Verhältnis", der sich in jüngster Vergangenheit zu einem Beziehungsdrama entwickelte aus gegenseitigem Misstrauen und Anschuldigungen. Anderthalb Jahre ist es her, da warf Erdogan Angela Merkel Nazimethoden vor.

Der Ton hat sich nun plötzlich geändert, und man muss kein besonders aufmerksamer Beobachter sein, um den zeitlichen Zusammenhang zum Sinkflug der türkischen Lira und aller relevanten Wirtschaftsdaten zu bemerken.

"Gekaufte Freundschaft – müssen wir der Türkei helfen?", fragte deswegen Maybrit Illner an diesem Donnerstagabend, gleich im nationalen "Wir", ohne dass eine Debatte um die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland offenbar nicht auskommt.

Diese Gäste diskutierten mit Maybrit Illner

Die Linken-Politikerin Sevim Dagdelen leitet die türkisch-deutsche Parlamentariergruppe im Bundestag und nennt Erdogan gern einen Terrorpaten. Dem Staatsbankett im Schloss Bellevue bleibt sie fern. "Ich wollte kein Statist sein, und es ist ja nur ein Dinner, kein Platz für Dialog."

Die selbe Entscheidung hat auch FDP-Chef Christian Lindner getroffen, der sein Fernbleiben auch als Zeichen an die deutsche Regierung versteht: "Ich fordere eine völlig neue Türkei-Politik."

Die Journalistin und Erdogan-Biografin Çigdem Akyol kritisierte die Entscheidung Lindners und Dagdelens als Absage an den Dialog: "Es wäre doch wichtig, genau da kritische Fragen zu stellen."

CDU-Mann Norbert Röttgen positionierte sich im Laufe der Diskussion als Hardliner – und schreckte auch nicht davor zurück, eine Aussage des Merkel-Vertrauten Peter Altmeier zu kritisieren. Altmeier hatte in einem Interview gesagt, er wolle, dass die Türkei ein stabiles und demokratisches Land bleibt. "Es tut mir leid, aber das 'bleibt' ist falsch. Die Türkei ist kein Rechtsstaat mehr." Er habe Angst, führte Röttgen fort, dass die Regierung falsche Signale sende. "Nicht, dass die Türkei denkt, wir finden uns mit den Fakten ab."

Richtig Bewegung kam erst mit einem Gast in die Runde, den Illner spät aus der ersten Reihe im Publikum hervorholte. Kemal Capaci, Inhaber eines deutschen und eines türkischen Passes, der mit zitternder Stimme über die Belastung sprach, sich ständig rechtfertigen zu müssen für seine Haltung zu Erdogan und zur Türkei.

Für einen der wenigen Aha-Momente des Abends sorgte der Wirtschaftswissenschaftler Erdal Yalcin von der Uni Konstanz, der die möglichen Auswirkungen der türkischen Wirtschaftskrise auf die europäischen Banken aufzeigte – und sich trotzdem mit einem Kurzauftritt begnügen musste.

Das war der Schlagabtausch des Abends

Streitbar, so lassen sich die Positionen von Kemal Capaci vorsichtig bezeichnen. Obwohl er selber angeblich "nicht der größte Erdogan-Fan" ist, verteidigte der Kölner Mediendesigner die AKP. Die Journalistin Çigdem Akyol irritierte, dass er kein Wort über die Vehaftungswellen gegen Oppositionelle und Journalisten verlor. Als er doch noch Worte dazu verlor, dürfte das die Irritationen nicht gerade aufgelöst haben: "Die Säuberungswelle gab es aufgrund des Putsches, man muss da empathisch sein: Wie hätte Deutschland in so einer Situation reagiert?"

Einmal in Fahrt, griff Capaci Sevim Dagdelen scharf an. "Wir haben in der Türkei große Probleme mit Terrorgruppen, die auch Frau Dagdelen unterstützt." Gemeint war die kurdische Arbeiterpartei PKK, die auch in Deutschland verboten ist und als Terrororganisation geführt wird – anders als etwa in den USA und Russland. Immer wieder stehen angebliche PKK-Mitglieder oder Sympathisanten vor deutschen Gerichten, die Polizei löste Anfang des Monats eine Demonstration von Kurden in Dortmund auf, weil auf Flaggen und Transparenten das Bild von PKK-Chef Abdullah Öcalan gezeigt wurde.

Erdogan fordert von der Regierung allerdings noch mehr Härte gegen die PKK. "Eine bekannte Masche der AKP, dieser PKK-Terrorvorwurf", sagte Dagdelen. Auch die Behauptung Capacis, Erdogan habe als Akt des guten Willens auf eine große Rede verzichtet, ließ die Linken-Politikerin nicht gelten: Schließlich lässt sich der Präsident die Eröffnung der Ditib-Moschee in Köln nicht nehmen. "Und Ditib ist nicht gemeinnützig, sondern gemeingefährlich."

So hat sich Maybrit Illner geschlagen

Im Duell Dagdelen gegen Capaci gab Illner die Friedensrichterin – im falschen Moment. "Ich will das abbinden", sagte Illner, und meinte: abwürgen. Dabei gehört gerade der Konflikt zwischen linken Kurden und ihren Sympathisanten auf der einen und den Erdogan-Unterstützern auf der anderen Seite dringend aufs Tapet, wenn man die Gemengelage in der deutsch-türkischen Community verstehen will. Illner verpasste die Gelegenheit, wie sie überhaupt hektisch wirkte an einem Abend, an dem es ein paar Anker gebraucht hätte an den richtigen Stellen, um die wenigen neuen Erkenntnisse wirklich sacken zu lassen.

Weil sie aber lieber Christian Lindner ausgiebig Zeit und Platz einräumte für seine wortgewaltigen Nichtigkeiten ("Außenpolitik muss ein Geben und Nehmen sein, Frau Illner."), musste sie den Wirtschaftswissenschaftler Erdal Yalcin abwürgen, als der die realpolitischen Zwänge aufzeigte, die das deutsch-türkische Verhältnis gerade formen: Der Türkei-Deal und die Situation der Flüchtlinge, die sich durch die Wirtschaftskrise noch verschlimmert. Die prekäre Lage in Idlib. Und die immensen Verpflichtungen der Türkei gegenüber Banken aus Frankreich, Spanien und Italien, die erfüllt werden müssen, soll die EU nicht schon wieder über Milliarden-Hilfen an Geldinstitute debattieren.

Das sind die Erkenntnisse aus Maybrit Illner

Offenbar hat Deutschland also doch ein sehr naheliegendes Interesse daran, die Türkei nicht allein zu lassen in ihrer Wirtschaftskrise. In einem Einspieler ließ Illner den Journalisten Deniz Yücel zu Wort kommen, ein Jahr lang ein Gefangener Erdogans.

Ausgerechnet er gab auf einer Dankesrede vor einigen Tagen dem Autokraten in einem Punkt recht: "Der Vorwurf der Scheinheiligkeit ist so falsch nicht." Auch Deutschland wolle nämlich entgegen aller offiziellen Beteuerungen einen Neustart, "sei es aus Furcht vor Flüchtlingen oder wegen Geschäftsinteressen".

Tatsächlich trifft sich Erdogan in Berlin auch mit einigen Wirtschaftskapitänen. Vielleicht geht es ja auch um die Pläne von Rheinmetall, eine Panzerfabrik in der Türkei zu bauen, ein gern verschwiegenes Kapitel der deutsch-türkischen Beziehungen, das Dagdelen kurz aufschlug, unter dem halbherzigen Protest von Norbert Röttgen: "Ich weiß darüber nichts Genaues, aber ich glaube, das stimmt nicht."

Aber wie "wir" (Maybrit Illner) der Türkei helfen können, ohne Erdogan zu stützen, das blieb das große Fragezeichen, hinter dem sich interessante Koalitionen bildeten: FDP-Mann Christian Lindner und Sevim Dagdelen wollen beide keinen Cent in die Türkei leiten. "Das halte ich für eine Veruntreuung von Steuergeldern", sagte die Linken-Politikerin.

Çigdem Akyol erinnerte daran, dass Erdogan nicht die Türkei ist - "Wir sollten auch an die Zivilgesellschaft denken. Die Türkei gehört nicht Erdogan." Und weil dann alle nickten, beendete Illner die Runde an dieser Stelle. Ist ja auch langweilig, wenn sich alle einig sind.

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