Große Not bei den Flüchtlingen, Überforderung in Europa: Die angespannte Situation lässt derzeit die Emotionen hochkochen, das zeigt sich auch bei der Debatte von "Günther Jauch". Doch hinter den Gefühlen verbirgt sich vor allem eins: Ratlosigkeit.

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Trotz des nahenden Winters versuchen immer noch Zehntausende Flüchtlinge über die Balkanroute nach Europa zu gelangen. Kälte und schlechtes Wetter spitzen die ohnehin dramatische Situation an den Grenzen weiter zu. Gleichzeitig wird in Europa über ihre Aufnahme gestritten.

Hans-Ulrich Jörges, Journalist beim Magazin "Stern", hat in den vergangenen Tagen die Flüchtlingslager in Slowenien besucht und zeigt sich bei Jauch erschüttert von den katastrophalen Zuständen. "Sie werden wie Gefangene behandelt", berichtet er bei Günther Jauch.

"Das ist die Schande Europas"

Die Flüchtlinge fühlten sich wie in Guantanamo. Sie bekämen kein Essen und kein Wasser, nur ein paar freiwillige Helfer würden sich um sie kümmern. "Das ist die Schande Europas, dafür müssen wir uns schämen", empört sich Jörges.

EU-Außenpolitiker Elmar Brok (CDU) führt die aktuelle Situation auf das Scheitern einer gemeinsamen Asylpolitik in Europa zurück. Die aktuelle Dringlichkeit bringe aber vieles in Bewegung. An diesem Sonntag sei endlich die Koordination zwischen den Ländern der Balkanroute beschlossen worden.

Innerhalb von 24 Stunden sollen Maßnahmen zur Nahrungsmittelversorgung und winterfeste Unterkünfte in Gang gebracht werden. "Lebensrettend als auch abschreckend" müssten die Maßnahmen sein – "das ist kein Widerspruch", meint Brok. Wie die Abschreckung aussehen soll, erklärt er nicht.

Nach Meinung des CSU-Politikers Peter Gauweiler unternehme die Europäische Union zu wenig. "Wo ist Herr Juncker jetzt im Balkan? Wo ist Herr Schulz?", beschwert er sich. Den anderen Ländern wirft er vor, Flüchtlinge nach Deutschland durchzuwinken. Überhaupt würden EU-Regeln missachtet.

Europa sucht nach einer Lösung

Die "Jahrhundertentscheidung" der Kanzlerin, die Flüchtlinge vom Budapester Bahnhof aufzunehmen, sei nicht demokratisch gewesen. Auch das Vorgehen bei Notfällen müsse von einem Parlament genehmigt werden. "Wir sind hier in einem völlig rechtlosen Zustand", zürnt Gauweiler.

"Europa löst das Problem noch nicht gut genug, aber ohne Europa ist es überhaupt nicht zu lösen", betont Brok. Der CDU-Politiker spricht sich für gemeinsame Grenzkontrollen aus, statt es wie bisher den einzelnen Ländern mit einer EU-Außengrenze zu überlassen: "Das ist unsolidarisch."

"Wir waren niemals eine Wertegemeinschaft, das war eine Illusion. Das zeigt sich jetzt", findet "Stern"-Journalist Jörges. Die EU-Länder würden vor allem wirtschaftliche Interessen verfolgen: "Bei vielen EU-Beitritten wollten die Länder vor allem Geld haben." In der Flüchtlingssituation gebe es keine Solidarität, sondern nur nationale Politik. Die Grenzen zu schließen, lehnt er ab: "Wenn wir eine Kette von Zäunen durch Europa bauen, ist Europa zerstört."

Der Schweizer Journalist Frank A. Meyer hält es für "Arroganz" zu sagen, Europa sei keine Wertegemeinschaft. Eben diese Werte seien es, warum die Flüchtlinge hierher kämen. "Diese Werte gefährden wir, wenn wir eine chaotische Situation schaffen", sagt er. Meyer plädiert für eine "Festung Europa", in der die Grenzen zwar nicht geschlossen werden, aber die Einwanderung "kanalisiert" wird. Wie genau er sich das vorstellt, lässt er offen.

Panik in Europa – Alltag in Syriens Nachbarländern

Melissa Fleming, Sprecherin des Flüchtlingswerkes der Vereinten Nationen (UNHCR), relativiert die aktuellen Flüchtlingszahlen in Europa: "Das sind Zahlen, die wir von vielen Nachbarländern von Krisengebieten kennen."

Auch die Nachbarländer von Syrien haben seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 vier Millionen Flüchtlinge aufgenommen, viele leben dort schon seit Jahren. "Jetzt, da viele Flüchtlinge nach Europa kommen, gibt es auf einmal Panik", bemerkt Fleming.

Finanzielle Kürzungen für die Flüchtlingslager hätten den Anstieg mitverursacht. Der UNHCR ist von freiwilligen Sonderzahlungen der Länder abhängig. Derzeit hat die Organisation nur 50 Cent pro Tag für einen Flüchtling zur Verfügung. Zudem seien viele Flüchtlinge von vielen Jahren Aufenthalt in Zelten und im Lager zermürbt. Auch die Aufnahmeländer sind erschöpft.

"Meiner Meinung nach wollen die meisten lieber in den Nachbarländern bleiben und warten, bis dieser furchtbare Krieg zu Ende ist", sagt Fleming. Weil die Bedingungen schlecht sind und sie dort auch nicht arbeiten dürfen, versuchen sie aber trotzdem nach Europa zu gelangen.

Rauer Ton in der Flüchtlingsdebatte

Die Flüchtlingsfrage bewegt die Menschen, auch bei Jauch wird die Debatte sehr emotional und mit teils giftigem Ton geführt. Die aufgeladene Stimmung prägt derzeit die Politik in Europa, auch Bundeskanzlerin Angela Merkel wird von ihren Unionskollegen heftig attackiert.

Bei den jüngsten Wahlen in Polen und der Schweiz zeigt sich ein Rechtsruck – obwohl diese Länder kaum von der Flüchtlingssituation betroffen sind. Bis jetzt war Deutschland gegen Rechtspopulisten immun, sagt Meyer: "Und wenn es immun bleibt, bleibt Europa vielleicht auch immun."

Unverständlich ist aber Meyers Behauptung, nicht die "Willkommenskomitees" würden die Integration leisten, sondern die "kleinen Leute". Er stellt es so dar, als wären Menschen, die Flüchtlinge in Deutschland begrüßen, nur abgehobene Mitglieder einer Elite, die ihre Kinder auf Privatschulen schickt.

"Die Helfer sind die Verbündeten bei der Integration", widerspricht ihm Jörges. Er zeigt sich besorgt von der Stimmungsmache gegen Flüchtlinge. "Man muss über die Hasswellen in Deutschland reden, in den sozialen Netzwerken", warnt er. Die Gesellschaft könnte sonst auseinanderbrechen.

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