Wer mit offenen Augen durchs Land geht, dem werden die vielen "Wir suchen"-Schilder aufgefallen sein. Sie werden in Zukunft eher mehr als weniger und so ist der Arbeitskräftemangel am Donnerstagabend bei "Maybrit Illner" Thema. Es wurde eine gute Diskussion, die aber auch zeigte, dass hier Grundsätzliches auf den Prüfstand muss.

Christian Vock
Eine Kritik
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Es ist nicht so, dass die Bundesregierung gerade nur die Unterstützung der Ukraine zu bewältigen hätte: Klimakatastrophe, fehlende Digitalisierung, Agrarwende, Wohnungsknappheit, Mobilitätswende, Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern ... Es ist viel liegengeblieben in den vergangenen Jahren. Am Donnerstag machte Maybrit Illner eine weitere vernachlässigte Baustelle auf und fragte: "Arbeitskräfte dringend gesucht – wer sichert Wirtschaft und Wohlstand?"

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Das Thema des Abends:

Es sieht nicht gut aus auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft – auf dem der Gegenwart aber auch nicht, wie es ein Einspieler erklärt. "Wenn jetzt die Babyboomer in Rente gehen, werden wir im deutschen Arbeitsmarkt bis 2035 um sieben Millionen Personen schrumpfen", meint dort Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Hunderte Milliarden weniger Wirtschaftsleistung würden Experten alleine durch den Personalmangel prophezeien.

Doch bereits jetzt fehle eine halbe Million Fachkräfte. Ältere gingen oft zu früh in Rente, die Jungen würden mehr Wert auf Freizeit legen und Zugewanderte an der deutschen Bürokratie verzweifeln. Diesen Rahmen setzt Maybrit Illner für die Diskussion, doch, wie die Diskussion zeigt, lohnt sich bei den kurz zusammengefassten Infos des Einspielers ein Blick aufs Detail.

Mit diesen Gästen diskutierte Maybrit Illner:

  • Andrea Nahles (SPD). Die Vorsitzende der Bundesagentur für Arbeit erklärt: "Wir haben einen eklatanten Fachkräftemangel, aber der ist in einigen Branchen stärker. Das ist bei der Pflege, das ist das Handwerk, das ist auf dem Bau." Die Diskrepanz zwischen der Zahl der offenen Stellen und der Zahl der Arbeitslosen liegt laut Nahles daran, dass beides noch nicht zusammenpasst. Sie fordert deshalb eine Qualifizierungsoffensive.
  • Jörg Dittrich. Dittrich ist Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks und sagt: "Wir müssen es schaffen, möglichst viele Menschen bis zum regulären Renteneintritt zu haben und dann gesellschaftlich auch den Anreiz zu setzen, dass Leute länger bleiben, die dann etwas dazuverdienen." Für Dittrich sollen außerdem duale Ausbildung und Studium in Ansehen, aber auch in finanzieller Ausstattung gleich behandelt werden.
  • Ricarda Lang (Die Grünen). Die Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen ist zugeschaltet. Lang sagt: "Es geht gar nicht darum, dass alle weniger arbeiten, sondern darum, wie wir Arbeit verteilen, wie wir davon weg kommen, dass teilweise Frauen immer noch in der Teilzeitfalle stecken und gleichzeitig andere bis zum Burnout und weit darüber hinaus arbeiten."
  • Carsten Linnemann (CDU). Linnemann ist stellvertretender Parteivorsitzender und will mehr Offenheit: "Irgendwann wird es Zeit, dass die Politik sich auch mal ehrlich macht und sagt, diese Lücke, wir reden ja über sieben Millionen Menschen, die bis 2035 fehlen, werden wir so nicht schließen können." Sein Vorschlag: Menschen, die Rente beziehen könnten, aber länger arbeiten wollen, sollen dies steuerfrei tun können.
  • Sara Weber. Weber war Redaktionsleiterin beim Karrierenetzwerk LinkedIn und ist Autorin von "Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?" Weber muss, aus welchen Gründen auch immer, zunächst alleine am Katzentisch stehen, ehe sie zur Runde stoßen darf. Weber kam in ihrem Beruf selbst an Grenzen und fragt: "Wie kommen wir dahin, dass Menschen wirklich gut arbeiten können und sich auf ihr Leben konzentrieren können und die Arbeit ist ein Teil davon, aber nicht der Hauptteil?" Ihren Recherchen zufolge nimmt der Stress bei den Menschen zu und erst wieder ab am Ende des Erwerbslebens.
  • Elisabeth Niejahr. Die Generation ihrer Tochter, erzählt die Geschäftsführerin der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung, erlebe ihre Eltern als Workaholics. Gleichzeitig meint Niejahr: "Wir haben einfach eine junge Generation, die ganz viel gleichzeitig finanzieren muss. Die müssen die Transformation bewerkstelligen, die sollen sowieso für eine riesige Zahl an Rentnern die Renten bezahlen."

Der Schlagabtausch des Abends:

Insgesamt war es eine sehr ruhige und sachliche Diskussion, die ohne Schlagabtausch auskam – zumindest ohne einen offenen. Carsten Linnemann versuchte dennoch ein bisschen parteipolitisches Feuer reinzubringen und suchte dafür gleich nach ultimativen Begrifflichkeiten: "Für mich war die Rente mit 63 einer der größten sozialpolitischen Fehler der Großen Koalition."

Das klingt erst einmal mächtig markant, aber erst erklärt Andrea Nahles, dass die Rente mit 63 nur eine bestimmte Zahl an Jahrgängen betraf: "Das Problem wird größer gemacht, als es ist." Dann erhält sie Rückenwind von Elisabeth Niejahr, für die die Rente mit 63 ebenfalls "ein überschätztes Problem" ist.

So schlug sich Maybrit Illner:

"Wir reden über Zuwanderung auf jeden Fall noch", behauptet Maybrit Illner nach knapp elf Minuten. Nach 59 Minuten klingt Illner dann so: "Stichwort Zuwanderung wird dann ein nächstes Mal sicherlich Thema in dieser Sendung sein." Mit anderen Worten: Der Zeitplan hat nicht so recht hingehauen, so dass das Thema Arbeitskräftemangel und Zuwanderung unter den Tisch fallen musste.

Das ist auf der einen Seite zwar schade, gehört es doch zur Diskussion, auf der anderen Seite hetzte Illner so auch nicht durch die anderen Themen der Sendung, was diesen zugute kam. Illner hatte ohnehin schon genug auf dem Zettel, so dass die Diskussion am Donnerstag auch maximal ein Einstieg ins Thema war und noch jede Menge Punkte offen blieben.

Das Fazit:

"Wer sichert Wirtschaft und Wohlstand?", fragte Maybrit Illner am Donnerstagabend und eine Antwort darauf kam natürlich nicht. Das konnte man allerdings auch gar nicht erwarten, denn dafür hat das Problem Arbeitskräftemangel viel zu viele verschiedene Ursachen und Facetten, aber damit auch Lösungsansätze. Es war dennoch ein informativer Abend, weil die Diskussion Grundsätzlicheres hinter dem Problem zutage förderte, manchmal ausgesprochen, manchmal zwischen den Zeilen.

Denn, das zeigte der Abend, es geht nicht einfach darum, wie man mehr Arbeitskräfte bekommt, um ein System zu erhalten, sondern darum, dass das ganze System auf den Prüfstand sollte.

Dazu gehören grundsätzliche Fragen wie die nach dem Stellenwert von Arbeit und Wohlstand. Wie viel Arbeit wollen wir und wie viel Wohlstand? Müssen Lebensunterhalt und Rente überhaupt wie aktuell an Arbeit gekoppelt sein? Wenn etwa Jörg Dittrich erzählt, dass sich Handwerksunternehmen wegen der hohen Sozialabgaben keine Mitarbeitenden mehr leisten können, muss man fragen: Gibt es hier nicht bessere Lösungen?

Wenn Carsten Linnemann scheinbar harmlose Sätze sagt wie "Ich glaube dass die Sozialversicherungsbeiträge die kleinen Einkommen auffressen werden" und "Wir müssen aufpassen, dass der Wohlstand uns nicht satt gemacht hat, sondern dass Eigenverantwortung auch weiter etwas zählt", dann weht bereits das Wort "Privatvorsorge" unausgesprochen durch die Diskussion – so realitätsfern das für die angesprochenen kleinen Einkommen auch ist.

Und auch wenn das Thema Zuwanderung zwar am Donnerstag nicht mehr zur Sprache kam, wird man sich in der Diskussion fragen müssen, ob man die dringend gebrauchten Zuwanderer wirklich im Land willkommen heißen oder lieber mit Ausdrücken wie "kleine Paschas" diffamieren will.

Mit anderen Worten: Wir erleben gerade eine Zeit, in der es an allen Ecken knirscht, weil etwas Grundsätzliches nicht passt. Das ist in vielen Bereichen dramatisch, aber es kann auch die Chance sein, Falsches zu korrigieren, statt es mit aller Kraft aufrechterhalten zu wollen. Dazu bedarf es aber grundlegenderer Überlegungen.

Das Positive: Es gibt, auch das zeigte der Abend bei Maybrit Illner, bereits viele Ideen und Menschen, wie zum Beispiel Jörg Dittrich, die nicht in alten Strukturen zu verharren scheinen, sondern Lösungen suchen.

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