Sie sind Hinterbänkler im wahrsten Sinne des Wortes: Fraktions- und Parteilose im Bundestag. Unsere Redaktion hat mit zwei von ihnen darüber gesprochen, wie das Verhältnis zu den Ex-Kollegen ist und wie sie sich alleine im Parlament behaupten.

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Es ist eine besondere Rede von Uwe Kamann. Denn seine Worte im Plenum des Bundestages am 13. Dezember 2018 sind die letzten, für die er Applaus aus der AfD-Fraktion erhält. Nur vier Tage später ist Kamann raus. Raus aus der AfD. Raus aus der Bundestagsfraktion. Er ist aus der Partei ausgetreten.

Der 61-Jährige ist kein Einzelfall, noch nie haben so viele Abgeordnete ihre Partei und damit auch ihre Fraktion im Bundestag verlassen wie in der aktuellen Legislaturperiode.

Neben Kamann sind da noch vier weitere ehemalige Abgeordnete der AfD: Frauke Petry und Mario Mieruch, die noch vor der Konstituierung des 19. Bundestags aus der AfD austraten, sowie Lars Herrmann und Verena Hartmann - beide verließen die Partei im Dezember 2019. Zu den Ex-AfD-Politikern kommt zudem der langjährige SPD-Politiker Marco Bülow. Er wandte sich im November 2018 von den Sozialdemokraten ab.

Alle sechs sitzen auf Einzelplätzen ganz hinten im Parlament. Wie ist der Umgang der fraktionslosen Abgeordneten untereinander? Wie ist das Verhältnis zu den alten Kollegen und wie kann sich ein Abgeordneter ganz ohne Fraktion im zweitgrößten Landesparlament der Welt behaupten? Darüber hat unsere Redaktion mit Uwe Kamann und Marco Bülow gesprochen.

Bülow: "Wenn keiner klatscht, ist das ziemlich bedrückend"

"Wenn die anderen Fraktionslosen reden, herrscht Totenstille", sagt Marco Bülow mit Blick auf die ehemaligen AfD-Politiker. "Ich kann nachvollziehen, dass das ein komisches Gefühl ist, wenn die eigene Ex-Fraktion schweigt. Wenn so gar keiner klatscht, ist das ziemlich bedrückend."

Ist das Mitgefühl eines linken Sozialdemokraten für die AfD-Aussteiger? Bülow macht schnell klar, dass zwischen ihm und Kamann sowie den anderen fraktionslosen Abgeordneten "ein Nichtverhältnis" herrsche. "Ich habe mit denen gar nichts zu tun – außer, wenn wir uns gegenseitig die Redezeit klauen."

Bülow spricht regelmäßig im Bundestag. In den letzten Jahren vor seinem Austritt aus der SPD war das eher die Ausnahme. Seit 2002 war er für die Genossen immer als direkt gewählter Abgeordneter des Wahlkreises Dortmund I ins Bundesparlament eingezogen. Er gehörte zum linken Flügel der SPD, war entschiedener GroKo-Gegner, der "Spiegel" nannte ihn einen "Quertreiber". Auch deshalb kam der Parteiaustritt am Ende wenig überraschend.

Heute sagt er: "Das Verhältnis zur Linkspartei ist ganz gut, da gibt es viele inhaltliche Überschneidungen – doch die gibt es auch mit den Grünen im ökologischen Bereich." Wenig verwunderlich, dass Bülow bei seinen Reden regelmäßig Applaus von den beiden Parteien, manchmal auch von der SPD bekommt. "Erst kürzlich war Christian Lindner bei einer meiner Reden stocksauer – ich scheine also noch wahrgenommen zu werden", erklärt Bülow belustigt.

Bülow kritisiert den Fraktionszwang

Ist man als Fraktionsloser machtlos, werde Bülow immer wieder gefragt. Er antworte dann immer: "Entscheidender ist, dass auch die anderen Abgeordneten kaum noch etwas entscheiden." Als normaler Abgeordneter der Regierungskoalition sei man "nur noch Erfüllungsgehilfe und Abnicker". In der Opposition sei es zwar etwas besser, "aber dort landen die Anträge immer in der Mottenkiste", meint Bülow.

Er kritisiert, ein einzelner Abgeordnete habe keinen großen Einfluss mehr. "Deshalb müssen wir die Rolle des Parlaments dringend überdenken, es ist einfallslos geworden, der Fraktionszwang macht vieles kaputt", sagt Bülow.

Zumindest dieses Problem hat er nun als Einzelabgeordneter nicht mehr. Dafür gibt es neue: Er sei nun für alle Themen selbst zuständig, erklärt Bülow. Anfragen könne er nun nicht mehr an Experten innerhalb der Fraktion weiterreichen.

Andererseits könne er nun quasi zu jedem Thema sprechen und "so Punkte setzen". Auch habe er mehr Zeit für Gespräche – und das Gefühl, mehr Post zu bekommen und dass mehr Menschen mit ihm sprechen wollen. "Die Leute haben einfach keine Angst mehr, dass sie vor den Parteikarren gespannt werden."

Ex-AfD-Politiker Kamann: "Sammelbecken rechtsextremer Protagonisten"

Freier und unbeschwerter agiert auch Uwe Kamann, seit er die AfD verlassen hat. Nach seinem Austritt seien die Reaktionen aus der Partei "durchwachsen" gewesen, erinnert er sich. "Von Ignorieren bis hin zu Beschimpfungen – vor allem in den sozialen Netzwerken – war alles dabei." Außerhalb der AfD habe er viel Zuspruch und viel positive Resonanz erhalten, bemerkt Kamann.

Für ihn habe es mehrere Gründe für den Parteiaustritt gegeben. "Die AfD hat sich zu einem Sammelbecken teilweise rechtsextremer Protagonisten entwickelt, in dem diejenigen das Sagen haben, die am lautesten schreien und die extremsten Positionen vertreten."

Dazu komme ein fehlender Wille zu kompetenter Sachpolitik und das Finanzgebaren der Bundestagsfraktion. Unter anderem hatten unabhängige, von der AfD-Spitze selbst eingesetze, Wirtschaftsprüfer moniert, dass "zahlreiche Mittelverwendungen nicht den Anforderungen des Abgeordnetengesetzes entsprechen", wie "Der Spiegel" berichtete.

Die AfD: Eine rechte Sekte?

Das Verhältnis zu den anderen vier ehemaligen AfD-Abgeordneten sei "grundsätzlich gut". Das Quintett stimme sich bei Reden ab und unterstütze sich beim organisatorischen Ablauf im Bundestag. Es gab sogar Überlegungen, eine eigene Gruppe im Bundestag zu bilden. Mehr als ein informelles Treffen habe es aber bisher nicht gegeben, "konkrete Pläne zur Gründung einer Gruppe gibt es nicht". Zum einen, weil es dazu mindestens acht Abgeordnete braucht.

"Zum anderen bin ich der Überzeugung", sagt Kamann, "dass insbesondere diejenigen Abgeordneten, die erst vor Kurzem ausgetreten sind, noch Zeit und Freiraum brauchen, um sich aus der ideologischen Umklammerung der AfD zu befreien."

Tatsächlich vergleicht Kamann die rechtspopulistische und in Teilen rechtsextreme Partei mit einer Sekte. "AfD-Mitglieder leben in einer geschlossenen Filterblase", sagt das Ex-Parteimitglied. "Wer sich den Luxus einer eigenen Meinung erlaubt, wird sehr rasch ausgegrenzt und kaltgestellt." Eine demokratische Willensbildung, wie sie in politischen Vereinigungen normalerweise erfolge, existiere in der AfD "kaum mehr".

Entspanntes Verhältnis zur Ex-Partei

Der Umgang der Sozialdemokraten mit Abweichler Bülow ist hingegen völlig anders, das Verhältnis sei mittlerweile "sehr viel entspannter", sagt der 48-Jährige. Er gehe weiter mit den Ex-Kollegen in der Kantine essen und rede mit ihnen, wenn man sich auf dem Gang trifft.

Besonders einprägsam sei ein Treffen Anfang März verlaufen: Nachdem im Bundestag mehrere Gremien gewählt worden seien, sei Bülow mit mehreren SPD-Fraktionsmitgliedern ins Gespräch gekommen. "Sie klagten mir ihr Leid. Offenbar nahmen sie mich als neutrale Instanz wahr", erinnert sich Bülow. "Ich war hingegen so entspannt, wie schon lange nicht mehr."

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