Der nordkoreanische Machthaber Kim Jong-un hat ein zentrales Prinzip seines Staates über Bord geworfen: Die angestrebte Vereinigung mit Südkorea. Stattdessen erklärte er das Nachbarland zum "Feindstaat Nummer eins". Ein Experte schätzt die Lage ein und beantwortet die Frage, ob die Entwicklungen mehr als nur Säbelrasseln sind.

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Die Welt blickt derzeit auf Gaza und die Ukraine, doch abseits der medialen Öffentlichkeit nutzt einer die Gunst der Stunde: der nordkoreanische Diktator Kim Jong-un. Am 16. Januar berichtete die staatliche nordkoreanische Nachrichtenagentur KCNA über seinen dramatischen Kurswechsel.

Demnach will er die friedliche Wiedervereinigungspolitik seines Großvaters, des Staatsgründers Kim Il-sung, aufgeben und Südkorea per Verfassung zum "Feindstaat Nummer eins" erklären. Ein Denkmal für die Wiedervereinigung soll abgerissen werden, Behörden, die für den innerkoreanischen Dialog zuständig sind, ließ Kim Jong-un schließen. Auch Schienen der innerkoreanischen Eisenbahn, die auf nordkoreanischem Gebiet liegen, will er zerstören.

Lage dramatisch verschärft

In einer Jahresansprache sagte er, es sei mittlerweile "eine unvermeidliche Realität", dass die Wiedervereinigung mit dem Süden "eine Illusion bleiben" werde. Nord- und Südkorea seien nach Jahrzehnten der Trennung keine Brüdervölker mehr, sondern Südkorea sei über die Jahre zu einer "Missbildung" geworden.

Mit der Abkehr von der Vereinigungspolitik verschärft sich die Lage auf der koreanischen Halbinsel drastisch – und ruft Experten auf den Plan. Fachkundige Beobachter fürchten, der nordkoreanische Machthaber könnte eine "strategische Entscheidung" getroffen haben, in den Krieg zu ziehen. Sie bezeichnen die Lage als "so gefährlich wie seit Anfang Juni 1950 nicht mehr".

Wiederaufflammen des Koreakriegs?

Damals brach der Koreakrieg aus, der Millionen Tote forderte. Seit 1953 befinden sich Nord- und Südkorea in einem Waffenstillstand, einen Friedensvertrag gibt es bis heute nicht. In seiner Ansprache sagte Kim Jong-un: "Wir wollen keinen Krieg, doch haben wir auch nicht die Absicht, ihn zu vermeiden." Im Ernstfall müsse Südkorea "vollständig besetzt" werden.

Auch Korea-Experte Frederic Spohr, der das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Seoul leitet, sagt: "Die Spannungen haben sich in den vergangenen Jahren zunehmend verschärft." Dabei macht er einen bedeutenden Wendepunkt aus: 2019, als das zweite Gipfeltreffen zwischen Kim Jong-un und Donald Trump in Hanoi spektakulär scheiterte. Damals habe Pjöngjang den Annäherungskurs gegenüber den USA und anderen westlichen Staaten aufgegeben. "Entschlossen und unbeirrt treibt er stattdessen sein Raketen- und Nuklearprogramm voran", sagt Spohr.

Kuschelkurs mit Russland

Außerdem wandte Kim Jong-un seinen Blick Richtung China und Russland. Eine Entwicklung, die im Westen mit großer Sorge gesehen wird. Nordkorea unterstützt Russland mit Waffenlieferungen, rund eine Million Artilleriegeschosse soll der Diktator an Putins Armee geliefert haben. "Mit dem Ukrainekrieg hat sich die politische Weltlage zu Nordkoreas Gunsten entwickelt", erklärt Spohr.

Durch das Interesse Russlands an Waffen- und Munitionslieferungen habe Nordkorea nun eine Großmacht als Unterstützer im Rücken und sei weniger auf Beziehungen zu anderen Staaten angewiesen. "Auch die Abhängigkeit von China wurde reduziert", analysiert der Experte.

Die Spannungen seien auch deshalb größer, weil in Südkorea seit Mai 2022 mit Yoon Suk-yeol ein konservativer Präsident regiert. "Yoon setzt weniger auf Austausch, sondern auf Abschreckung und eine internationale Isolation Nordkoreas", erklärt Spohr. Auf Militärübungen und Tests des Nordens reagiere Südkorea nun mit eigenen Manövern oder der Aufkündigung von Vereinbarungen. "Beide Staaten befinden sich derzeit in einer Eskalationsspirale", lautet Spohrs Einschätzung.

Deeskalation wird schwieriger

Dennoch hätte keine Seite Interesse an einem Angriff, insbesondere Südkorea nicht. "Beiden Seiten geht es vor allem um Abschreckung", meint Spohr. Dennoch könnte Südkorea auf militärische Provokationen oder kleinere Vorstöße Nordkoreas mit militärischen Gegenangriffen reagieren. "Beide Seiten wollen Entschlossenheit demonstrieren und keine Schwäche zeigen. Die daraus resultierende Dynamik ist gefährlich und kann sich zu einem ernsthaften Konflikt ausweiten", warnt Spohr.

Mit Kim Jong-uns Aussage, dass er Nord- und Südkorea nicht mehr als eine Nation sieht, verleihe er seinen Drohungen mehr Glaubwürdigkeit. "Indem er alle Südkoreaner zu Feinden erklärt, löst er das Dilemma auf, den eigenen Landsleuten mit der Vernichtung durch Atomwaffen zu drohen", sagt Spohr. Dass Südkorea nun Feindstaat und nicht mehr Bruder ist, will Kim Jong-un den Menschen erzieherisch näherbringen. Eine Deeskalation werde vor diesen Hintergründen immer schwieriger.

Auswirkungen auf die USA

"Das hat Auswirkungen auf die USA: Die Vereinigten Staaten haben Südkorea Sicherheit und Schutz vor Nordkorea versprochen", erinnert der Experte. Um weiterhin glaubwürdig zu sein, müssten die USA dieses Versprechen einlösen. Es stellt sich also die Frage, ob Washington sich im Ernstfall tatsächlich als verlässlicher Partner herausstellen würde – vor allem vor dem Hintergrund, dass ab 2025 auch wieder Donald Trump im Weißen Haus sitzen könnte.

"Nun haben die USA neben dem Ukrainekrieg und dem Gazakrieg noch eine weitere Krise, die Aufmerksamkeit und Ressourcen erfordert. Der Konflikt auf der koreanischen Halbinsel spielt damit auch Russland in die Hände", meint er.

Wie groß ist die Gefahr?

Wie groß die Gefahr eines Wiederaufflammens des Koreakriegs ist, kann niemand sicher sagen. "Niemand kann in den Kopf von Kim Jong-un schauen. Ein Krieg oder eine Invasion des Südens kann aber nicht ernsthaft in seinem Interesse sein", sagt Spohr. Es würde mit hoher Wahrscheinlichkeit das Ende seines Regimes bedeuten. Auch China, dem sich Nordkorea zugewandt hatte, dürfte gegen eine solche Eskalation sein. Schließlich ist Peking derzeit wieder eher um eine Annäherung an die USA bemüht.

Möglicherweise sei es jedoch das Kalkül von Pjöngjang, die Spannungen zu erhöhen. "Eine vermeintliche externe Bedrohung kann er propagandistisch ausnutzen und durch den Aufbau eines Feindbildes seine eigene Macht legitimieren und festigen", erklärt der Experte.

Über den Experten

  • Frederic Spohr leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Seoul.

Verwendete Quellen

  • Gespräch mit Frederic Spohr
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