Die rechtsextreme Identitäre Bewegung feierte sich als "Europas am schnellsten wachsende Jugendbewegung”. Doch nun zeigen Recherchen und szeneinterne Äußerungen, dass die Organisation zumindest in ihrer jetzigen Form vor dem Ende steht.

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Mehrere junge Männer fläzen in Liegestühlen. Mitten auf einer Straße unweit des Steintor-Campus in Halle an der Saale genießen sie die Sonne. "Wir werden keinen Meter weichen!", prangt in Großbuchstaben auf einem Banner neben ihnen. Tatsächlich werden sich die Männer gezwungenermaßen an diesem 20. Juli nicht bewegen. Denn etwa 3.000 Gegendemonstranten verhindern die angekündigte Demonstration der Identitären Bewegung (IB) durch die Stadt. Gut 200 Rechtsextremisten müssen den Tag vor ihrem Hausprojekt in der Adam-Kuckhoff-Straße verbringen. Eine Schlappe - und es bleibt nicht die letzte in diesem Jahr.

Kaum fünf Monate später haben die Rechtsextremisten dieses "erste patriotische Hausprojekt in Deutschland" offiziell geräumt. Ein "Rückschlag" für das selbstbetitelte "Leuchtturmprojekt", wie die IB am 12. Dezember in einer Pressemitteilung selbst eingesteht. Recherchen zeigen nun, dass die IB nicht nur in Halle auf dem Rückzug ist.

"Die Identitären haben ihren Zenit überschritten, die Marke beziehungsweise der Name ist beschädigt", erklärt die österreichische Politikwissenschaftlerin und Autorin Kathrin Glösel unserer Redaktion. Glösel ist ausgewiesene Kennerin der IB und sagt: "Ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass sich ausgehend von den Akteuren etwas Neues formieren wird." Sie sehe zwar derzeit kein komplettes Ende der Identitären, aber "bei ihnen ging es in den vergangenen Monaten merklich bergab, sowohl in Deutschland als auch in Österreich".

Identitäre Bewegung: "Es wird nichts Großes mehr daraus"

Übereinstimmend berichten Beobachter, dass die IB "bundesweit zusammenbrechen" würde. Auch Aussagen von Wegbegleitern der Identitäten selbst legen das nahe. So schildert ein ehemaliges Führungsmitglied der sächsischen IB unserer Redaktion: "Dass die IB – gerade in Sachsen – nach meinem Rücktritt nicht in der Lage war, die errungene Position langfristig oder zumindest das aktivistische Niveau zu halten, ist recht offensichtlich."

Selbst der Vordenker sowohl der Neuen Rechten im Allgemeinen als auch der IB im Besonderen, der Verleger Götz Kubitschek, hält das Projekt für gescheitert. Im November bemerkte er in einem Interview mit der rechtsextremen österreichischen Zeitschrift "Die Neue Ordnung": "Es wird nichts Großes mehr daraus." Die IB sei "bis zur Unberührbarkeit kontaminiert". Die Äußerung ist deshalb so besonders, weil Kubitschek die Bewegung im deutschsprachigen Raum zusammen mit dem Österreicher Martin Sellner mit aufgebaut hatte.

Ebenfalls drastische Worte wählte Alexander Markovics. Der Mitbegründer der Identitären Bewegung Österreich, dort ehemaliger Obmann und Pressesprecher, höhnte in der Juni-Ausgabe der NPD-Parteizeitung "Deutsche Stimme" über die IB: Diese sei "zu einer Sekte verkommen", deren Zeichen "auf Stagnation bis Niedergang" stehen.

"Unter dem IB-Label passiert nicht mehr viel"

Tatsächlich scheint der Name "Identitäre Bewegung" "verbrannt", wie ein Kenner der Szene im Ruhrgebiet unserer Redaktion auf Anfrage schreibt. In Nordrhein-Westfalen gaben sich die Identitären einen neuen Eigennamen. Doch "Defend Ruhrpott" sei nun "quasi auch nicht mehr existent", seit Monaten hätten keinerlei Straßenaktivitäten mehr stattgefunden. Die Mitglieder würden nun eigene Wege suchen: von Neonazi-Gruppierungen und Bürgerwehren über Fußballvereine bis hin zur AfD.

"Unter dem IB-Label passiert nicht mehr viel", bestätigt Valentin Hacken, Sprecher des Bündnisses Halle gegen Rechts, unserer Redaktion. "Einige Aktivisten, wie Melanie Schmitz oder Mario Müller, haben Halle schon vor einer Weile verlassen, andere sieht man deutlich seltener. Insgesamt hat die Gruppengröße in den vergangenen Monaten merklich abgenommen."

Die Situation ist auch in Thüringen ähnlich. Das dortige Innenministerium stellte "bereits im Jahr 2018 ein rückläufiges Aktions- und Kampagnengeschehen" der IB in dem Bundesland fest. Weiter heißt es in der Antwort auf eine kleine Anfrage der Linkspartei: "Eine Vernetzung mit anderen Regionalgruppen in Deutschland oder zu Gruppen der 'Identitären Bewegung' außerhalb Deutschlands ist derzeit über vereinzelte persönliche Kennverhältnisse hinausgehend nicht erkennbar."

Neuer Name, alter Inhalt

"Bis 2014 war die IB in Deutschland dezentral organisiert, überall gab es kleinere Regionalgruppen", erläutert IB-Expertin Glösel. Der österreichische IB-Chef Sellner habe die Aufbauarbeit geleistet und mitgewirkt, dass sich die IB zentral organisiert. "Nun scheint sich das Ganze wieder umzudrehen, zurück zur dezentralen Organisation, vor allem über Telegram-Gruppen. Die, die ideologisch gefestigt sind, haben sicher nach wie vor ein Handlungsbedürfnis. Sie weichen nun auf Wege aus, die unproblematischer sind", sagt Glösel. Viele der Aktivisten hätten sich aber nur taktisch zurückgezogen und treten nun nicht mehr offen auf. Die Gefahr bleibt. "Je kleiner und dezentraler rechte Gruppierungen organisiert sind, desto verbal härter und rabiater können sie agieren", erläutert Glösel. Sie schätzt, dass es in Deutschland 400 bis 600 und in Österreich 300 Mitglieder und Anhänger der Identitären gibt.

Doch was ist der Grund für den rasanten Bedeutungsverlust der Identitären? "Es war das Zusammenspiel von kritischer Berichterstattung und Zivilgesellschaft sowie der Druck durch die Behörden, was den Identitären zugesetzt hat", fasst Glösel zusammen. Vor allem die Zivilgesellschaft habe über die Gefahren informiert, die von der IB ausging, und sie hat die Verbindungen zur AfD und zur FPÖ offengelegt. Dazu kommt: "Große IB-Aufmärsche haben nie funktioniert, das hat auch die Kader frustriert."

Und zu guter Letzt haben die Behörden das Handeln unbequem gemacht. Der Verfassungsschutz beobachtet die IB in Deutschland seit 2016, im Juli stufte er sie dann als "rechtsextremistische Bewegung" ein. Ein Vorgang mit Folgen: Trotz deutlicher Sympathien gerade im völkischen Flügel der AfD für die IB hat die Partei den seit 2015 bestehenden Unvereinbarkeitsbeschluss bis zuletzt aufrechterhalten. Facebook sperrte die Seiten der Bewegung, den für sie bis dato wichtigsten Kommunikationskanal.

Behörden setzten Identitären zu

Auch in Österreich liefen und laufen noch immer Gerichtsprozesse gegen die Identitäre Bewegung. Sowohl in der Alpenrepublik als auch in Deutschland kann der rechtsextreme Anschlag von Christchurch als Wendepunkt für das staatliche Vorgehen gesehen werden. "Das Wissen über die Spende des Rechtsterroristen an Sellner hat einiges ins Rollen gebracht", sagt Glösel. Durch Hausdurchsuchungen, das Aufdecken von Scheinvereinen sowie von Unregelmäßigkeiten beim IB-Onlineshop in Österreich hätten die Identitären viel Rückhalt und Infrastruktur verloren.

Und in Halle? Im dortigen Hausprojekt herrscht vorerst Kontinuität. "Es sind nach wie vor Leute im Haus, die wir der IB zurechnen", sagt Valentin Hacken von Halle gegen Rechts. Er hält den Rückzug für vorgeschoben, "das Haus bleibt ein rechtsextremes Hausprojekt". Denn die Räumlichkeiten würden nach wie vor vom rechten Kampagnenprojekt "Ein Prozent" oder Kubitscheks Verlag Antaios genutzt.

Daneben weiß Glösel: "Die Rechten sind gut darin, sich alle paar Jahre taktisch neu zu erfinden. Sie heißen dann anders, aber Kader und Ideologie bleiben gleich.”

Verwendete Quelllen:

  • Telefonate mit Kathrin Glösel und Valentin Hacken
  • Chats mit Szenebeobachtern und einem IB-Aussteiger
  • Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes: "Ehemaliger Spitzenkader: Zeichen für Identitäre auf ‚Stagnation bis Niedergang‘"
  • "Belltower.News": "Götz Kubitschek erklärt die ‚Identitäre Bewegung‘ für ‚bis zur Unberührbarkeit kontaminiert‘.
  • Kleine Anfrage der Linkspartei zur Identitären Bewegung Thüringen
  • "Identitäre in Bochum": "'Defend Ruhrpott' – Erste Einschätzungen zu einer neuen, alten, extrem rechten Formation im Ruhrgebiet"
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