In Umfragen liegt die AfD bundesweit bei über 20 Prozent. Für Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, ist das ein Schock. Im Interview spricht er über die in weiten Teilen rechtsextreme Partei, den Aiwanger-Skandal und die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland.

Ein Interview

Vor zwei Wochen begann nach dem jüdischen Kalender das Jahr 5784. Für Jüdinnen und Juden ist es traditionell eine Zeit der inneren Einkehr und Reflexion. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, nimmt sich dennoch die Zeit für ein Interview mit unserer Redaktion. Wir erreichen ihn telefonisch in Würzburg, wo der gelernte Arzt lebt und seine Familie seit Jahrhunderten verwurzelt ist.

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Den wohl wichtigsten Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland treibt derzeit vieles um: Ein Antisemitismusskandal jagt den nächsten, Studien sehen einen Zuwachs rechtsextremer Ansichten und die AfD befindet sich in Wahlumfragen auf einem Allzeithoch. Entwicklungen, die die Jüdinnen und Juden in diesem Land besonders betreffen.

Herr Schuster, im jüdischen Kalender befinden wir uns in einer besonderen Phase: Gerade folgt ein wichtiger Feiertag auf den anderen. Was bedeutet diese Zeit für Jüdinnen und Juden?

Josef Schuster: Die Zeit rund um das Neujahrsfest Rosch Haschana und den Versöhnungstag Jom Kippur sind im Judentum sehr bedeutsam: Hier wird nach jüdischer Vorstellung von Gott entschieden, was einem im neuen Jahr widerfahren wird. Gutes oder eventuell auch Nichtgutes. Auf diese eher ernsteren Tage folgt das Laubhüttenfest Sukkot, das wir gerade begehen. Für observante Juden [Gläubige, die nach den jüdischen Religionsgesetzen leben, Anm. d. Red.] ruht in dieser Zeit der Hohen Feiertage die normale Arbeit. Man kommt ein wenig zur inneren Ruhe und hat Zeit nachzudenken.

Worüber machen Sie sich bei dieser Gelegenheit Gedanken?

Für mich sind die Feiertage auch ein Anlass, den Rückblick auf das vergangene Jahr zu wagen. Und ich will ehrlich sein: Vieles, was passiert ist, aber auch manche Aussicht für das kommende Jahr treiben mich um.

Jom Kippur markiert auch einen schrecklichen Jahrestag: An diesem Tag vor vier Jahren versuchte ein rechtsextremer Attentäter mit einer Waffe in die Synagoge von Halle einzudringen. Was bedeutete der Anschlag für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland?

Es war ein einschneidendes Ereignis. Auch ich werde diesen Tag vor vier Jahren nie vergessen. Unmittelbar danach hat der Besuch der Gottesdienste in den jüdischen Gemeinden deutlich nachgelassen. Man hat die Angst förmlich gespürt. Doch die Behörden und der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer haben schnell reagiert und die Sicherheitsmaßnahmen an jüdischen Einrichtungen deutlich erhöht. Das Gefühl der Sicherheit hat sich dadurch in der jüdischen Gemeinschaft zum Glück schnell wieder eingestellt.

Allerdings hat die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gerade einen Zuwachs an rechtsextremen Einstellungen in Deutschland festgestellt. Spüren auch Sie diesen Stimmungswandel?

Wir haben es definitiv mit einem Stimmungswandel zu tun. Persönlich spüre ich diesen nicht, aber zum Beispiel in den Wahlumfragen sieht man ihn: Dort steht die AfD, eine in weiten Teilen rechtsextreme Partei, bei Werten, die ich mir in meinen Albträumen nicht ausgemalt hätte und die mir ernsthaft Sorgen bereiten.

In der FES-Umfrage stimmen 20 Prozent der Befragten zumindest teilweise der Aussage zu, dass Juden "nicht so recht zu uns passen". Erschreckt Sie, dass ein Fünftel der Bevölkerung die Juden offenbar nicht als Teil Deutschlands betrachtet?

Das ist ein erschreckender Befund. Aber: Seit Jahren ist in Umfragen die Ablehnung jüdischen Lebens in Deutschland konstant bei etwa 20 Prozent. Der Antisemitismus hat in diesem Land eine sehr lange Geschichte. Entscheidend ist für mich, dass es gelingt, gerade junge Menschen für das Judentum zu sensibilisieren sowie über Antisemitismus aufzuklären, damit solche Einstellungen in diesem Lande irgendwann keine Chance mehr haben. Gelingen kann das nur mit Bildung.

"Hubert Aiwanger betreibt eine Täter-Opfer-Umkehr."

Josef Schuster

Es scheint, dass in Deutschland kein Jahr ohne großen Antisemitismusskandal vergeht. Im August hielt ein antisemitisches Flugblatt die Öffentlichkeit in Atem, das nach einem ersten Medienbericht Hubert Aiwanger verfasst haben soll. Dem Politiker der Freien Wähler konnte die Urheberschaft jedoch nie wasserdicht nachgewiesen werden. Sie haben Aiwangers Agieren in der Affäre dennoch kritisiert. Warum?

Es geht mir bei meiner Kritik weniger um das Pamphlet, das vor 35 Jahren verfasst wurde, ob nun von Hubert Aiwanger selbst oder seinem Bruder. Er hatte es jedenfalls in der Tasche und ehemalige Mitschüler berichteten insgesamt von einem eigenartigen Verhalten. Gerade deswegen geht es mir vielmehr darum, wie er heute damit umgeht. Ich hätte erwartet, dass sich ein verantwortungsvoller Politiker mit dem Aufkommen dieser Vorwürfe ganz eindeutig von diesem Flugblatt und den Inhalten distanziert und auch sein Bedauern über seine Rolle damals glaubhaft zum Ausdruck bringt. Das habe ich bei Aiwanger vermisst. Stattdessen betreibt er eine Täter-Opfer-Umkehr und behauptet, der Nationalsozialismus würde missbraucht, um ihm zu schaden.

Sie haben Aiwanger vergangene Woche zu einer Aussprache getroffen. Hat dieses Gespräch für Sie mehr Klarheit gebracht?

Ich habe ihm noch einmal erläutert, was meiner Meinung nach problematisch war. Wir haben uns darüber sachlich ausgetauscht. An meiner Kritik an seinem Umgang ändert es nichts.

Warum haben Sie sich auf dieses Treffen überhaupt eingelassen?

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hatte Aiwanger die "Hausaufgabe" mitgeben, das Gespräch mit jüdischen Vertretern zu suchen. Ich fand es nicht besonders glücklich, dass diese Aufforderung auf einer öffentlichen Pressekonferenz ausgesprochen wurde. Das hätte besser unter vier Augen passieren sollen – nur so hätte man gesehen, ob Aiwanger dem wirklich aus eigenem Antrieb nachkommen würde. Das Gespräch verweigern wollte ich aber nicht. Es gibt Menschen, bei denen ich keine Grundlage für einen Austausch sehe. Bei Herrn Aiwanger war diese aber vorhanden.

Mit Vertretern der AfD würden Sie zum Beispiel nie reden. Das haben Sie und der Zentralrat bereits vor Jahren beschlossen. Manche sehen in der Rhetorik Aiwangers jedoch eine Nähe zur AfD.

Sie meinen Herrn Aiwangers Aussage, man müsse sich die Demokratie zurückholen, die er bei einer Rede in Erding geäußert hat. Ich halte diese Aussage durchaus für problematisch, aber ich würde den Freien Wählern als Partei keinen Rechtspopulismus oder Antisemitismus unterstellen. In Bayern gehört der Kultusminister Michael Piazolo zu den Freien Wählern. Was dieser für die Erinnerungskultur leistet, ist ohne jeden Tadel.

Aiwanger scheint die Affäre nicht geschadet zu haben. Die Freien Wähler haben in Umfragen sogar zugelegt. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?

Es sagt aus, dass offensichtlich die von Aiwanger vertretenen Thesen und seine Reden in Bierzelten in Bezug auf die Affäre bei den Wählern verfangen. Dass viele Menschen für die Diskussion, die wir führen, kein Verständnis haben, erschreckt mich.

"Sollte eine Partei wie die AfD jemals Teil einer Bundesregierung sein, müsste man sich ernsthaft überlegen, ob jüdisches Leben in Deutschland noch möglich ist."

Josef Schuster

Auch die AfD legt in Umfragen immer weiter zu. Bundesweit steht sie teilweise bei über 20 Prozent. Lässt Sie das manchmal an der Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland zweifeln?

Natürlich gibt mir das zu denken. Charlotte Knobloch, Schoa-Überlebende und Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, hat 2006 gesagt, die Juden in Deutschland hätten ihre Koffer endlich ausgepackt. Damals war dieser Satz absolut korrekt.

Und heute?

Heute schaut der eine oder andere schon mal auf dem Dachboden nach, wo er den leeren Koffer verstaut hat, um ihn wieder griffbereit zu haben. Sollte eine Partei wie die AfD jemals Teil einer Bundesregierung sein, müsste man sich ernsthaft überlegen, ob jüdisches Leben in Deutschland noch möglich ist. Wegen ihrer radikalen Positionen zur Erinnerungskultur, ihren Beziehungen zu rechtsextremen Gruppen und der in ihren Reihen stark verbreiteten Xenophobie. Ich hoffe, dass sich das Verständnis durchsetzt, dass eine Partei, die zwar Slogans produzieren kann, aber keine Lösungen aufzeigt, nicht wählbar ist, wenn man an einer guten Zukunft in diesem Land interessiert ist.

Wie sollten die anderen Parteien mit der AfD umgehen?

Ich bin der Meinung, dass es seitens der demokratischen Parteien keine Zusammenarbeit mit einer Partei geben darf, die in großen Teilen nationalistisch, rassistisch und völkisch ist. Einer Partei, die ganz klar auch Nazi-Ideale verkörpert.

In Thüringen hat die CDU auch mithilfe von AfD-Stimmen eine Senkung der Grunderwerbssteuer durch den Landtag gebracht. War das schon eine Zusammenarbeit?

Ich hätte erwartet, dass es den demokratischen Parteien, in Thüringen meine ich damit von der CDU bis zu den Linken, gelingt, diese Frage vorab gemeinsam zu lösen. Schuldzuweisungen möchte ich aus meiner Position heraus in diesem Fall nicht aussprechen. Vor den wichtigen Wahlen im kommenden Jahr im Osten muss jedoch klar sein, dass Brandmauer bedeutet: keine Zusammenarbeit, keine Absprachen und keine strategischen Überlegungen mit der AfD. Gerade auf kommunaler Ebene gibt es von allen Parteien, nicht nur von der CDU, aber natürlich verstärkt von dort, bereits mehr davon, als ich es für richtig halte. Noch stellen sich viele Menschen hinter die Idee der Brandmauer. Die Vergangenheit lehrt uns leider, dass sich so etwas schnell ändern kann. Ich hoffe aber, dass die Brandmauer hält.

Das neue jüdische Jahr ist gerade einmal zwei Wochen alt. Es ist also noch nicht zu spät, Wünsche zu äußern. Was sind Ihre?

Vor allem wünsche ich mir eine Beendigung des Krieges in der Ukraine. Dann, dass wir in Deutschland von Krisen weitgehend verschont bleiben und dadurch die Polarisierung der deutschen Gesellschaft nachlässt. Für die jüdische Gemeinschaft wünsche ich mir ein Leben in Sicherheit und den nahenden Abschluss eines besonderen Projekts: Die im Bau befindliche Jüdische Akademie in Frankfurt am Main wird hoffentlich noch in diesem Jahr ihrer Fertigstellung ein großes Stück näher kommen.

Zur Person:

  • Josef Schuster ist 1954 im israelischen Haifa geboren. Seine Eltern flohen 1937 vor den Nazis ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina, kehrten aber mit ihrem Sohn 1956 zurück nach Deutschland. Zwei Großeltern Josef Schusters wurden in Auschwitz ermordet. Seit 2014 ist Schuster Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er ist Arzt und lebt in Würzburg.
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