Die USA sind nach dem Tod von George Floyd in Aufruhr wie selten zuvor. Die Gewaltspirale dreht sich immer weiter und der Präsident findet bislang keinen vernünftigen Umgang mit der Situation. Gerät die Lage außer Kontrolle?

Eine Analyse

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Seit zwei Wochen brennt es auf den Straßen der USA. Tag für Tag, Nacht für Nacht säumen Protestzüge die amerikanischen Metropolen, meistens friedlich, aber nicht immer. Auslöser war die gewaltsame Tötung des Afroamerikaners George Floyd. Der Grund war das nicht.

Die Gegenkräfte im Land sind vital, viele Menschen wollen nicht mehr akzeptieren, dass die Waffenläufe amerikanischer Cops zu oft auf die Körper schwarzer Menschen zeigen. Nie war der Todeskampf eines Opfers maßloser Polizeigewalt unmittelbarer zu sehen wie im Fall Floyd.

Während sich US-Präsident Donald Trump einen Tag nach der Tötung Floyds in Washington als gnadenloser Anführer ("Präsident für Recht und Ordnung") inszenierte, marschierten Tausende Demonstranten in Richtung des Weißen Hauses. Die Sicherheitskräfte gingen dabei mit absoluter Härte zur Sache, Soldaten der Nationalgarde waren zur Stelle, berittene Polizisten rückten an. In der Nacht zu Dienstag kreisten Militärhubschrauber in geringer Höhe über Washington, um Demonstranten und Plünderer einzuschüchtern. Es flogen Blendgranaten und Hasstiraden.

Die USA erinnern in diesen Tagen an ein Schlachtfeld in Falludscha oder an den gescheiterten Militärputsch in Istanbul. Es fehlte nur noch, dass Militärpanzer über die Washington-Bridge rollten.

Polizeigewalt ist kein neues Phänomen unter Trump

Dabei ist Polizeigewalt in den USA kein neues Problem. Die "Washington Post" trägt seit 2015 Daten zu Tötungen durch die Polizei zusammen. Eine Analyse dieser Daten zeigt: Gemessen am Bevölkerungsanteil werden Schwarze mehr als doppelt so oft von Polizisten getötet als Weiße. Sie sind häufiger unbewaffnet als Latinos oder Weiße, gerade junge Afroamerikaner sind besonders betroffen.

Dass Donald Trump Schuld daran hat, geben die Zahlen nicht her. In den Jahren der Obama-Präsidentschaft wurden mehr Menschen durch Polizisten erschossen als heute.

Obama vermochte es aber, die Brüche einer gesellschaftlich gebeutelten Nation mit empathischen Reden zu kitten. Trump hingegen erhöht die Temperatur immer weiter, um die Menschen mit seiner Rhetorik aufzuhetzen.

Muss man sich also um die USA Sorgen machen? Ja, sagt der Amerikaexperte Michael Hochgeschwender von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von einem Bürgerkrieg seien die USA zwar noch weit entfernt, man könne sich aber in den nächsten Jahren auf Gewalteskalationen von allen Seiten einstellen. Das liege vor allem an der Führungsschwäche im Weißen Haus. "Trump agiert konfus und stellenweise grotesk", sagt Hochgeschwender im Gespräch mit unserer Redaktion. "Er gibt sich als starker Mann, aber seine Stärke ist tatsächlich reine Inszenierung."

Davon zeugt Trumps bizarrer Auftritt vor der St.-Johns-Kirche wenige Tage nach der Tötung Floyds. Um ein Werbevideo in eigener Sache aufzunehmen, ließ sich Trump vom Militär den von Demonstranten gesäumten Weg freiräumen, und mit einer Bibel in der Hand ablichten.

Frühere Präsidenten hätten vermutlich die Bibel aufgeschlagen und die Geschichte von Jakob und Esau, die wohl bekannteste Versöhnungsgeschichte, rezitiert. Der Ball lag auf dem Elfmeterpunkt, doch Trump feuerte krachend über das Tor: Er hielt die Bibel falsch herum ins Bild. Eine gruselige Szene, die man sonst eher von lateinamerikanischen Potentaten kennt.

Lincoln schlichtet und eint die gespaltene Nation

Trump hätte sich ein Beispiel an seinem Parteifreund Abraham Lincoln nehmen können, der passendere Worte gefunden hatte in einer Zeit, in der die USA vor der Abbruchkante standen. Während seiner zweiten Antrittsrede als US-Präsident, unmittelbar nach dem Ende des Bürgerkrieges 1865, war Lincoln auf den Rasen vor dem Weißen Haus für eine Rede ans Pult getreten. Zwei Tage zuvor war nach 48 Monaten erbitterten Kampfes und 680.000 Gefallenen der amerikanische Bürgerkrieg mit der Kapitulation der Südstaaten zu Ende gegangen.

Lincoln hatte als Gäste bewusst Schwarze wie Weiße geladen – als klare Absage an den Rassismus im Land, aber auch als Signal der Versöhnung und des Willens der Wiedervereinigung für eine durch die Sklaverei gespaltene Nation.

"Ohne Bösartigkeit gegen irgendjemanden, mit der Großmut gegen alle, mit Festigkeit in dem, was Recht ist, wie Gott es uns ermöglicht, das Recht zu sehen; lasst uns danach streben, die Arbeit, die wir begonnen haben, zu beenden; die Wunden der Nation zu verbinden, sich um den zu sorgen, der die Bürde der Schlacht getragen hat, und für seine Witwe, und für sein Waisenkind – lasst uns alles tun, um einen gerechten und dauerhaften Frieden herbeizuführen und zu bewahren, unter uns selbst, und mit allen Nationen", waren Worte, mit denen er die Seele einer gespaltenen Nation kitzelte und ein Beispiel für gelungene Krisenkommunikation.

Kolumnist der NYT: "Sind auf dem Weg in kulturellen Bürgerkrieg"

"Wir sind auf dem Weg in einen kulturellen Bürgerkrieg, aber diesmal haben wir kein Glück: Abraham Lincoln ist nicht der Präsident", schrieb dann auch der Kolumnist Thomas L. Friedman in der "New York Times".

Auch für den Politologen Michael Dreyer, Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wäre Mäßigung erste Präsidentenpflicht. "Es ist Teil der Aufgabe amerikanischer Präsidenten, als 'Healer in Chief' zu fungieren, also als die Person, die angesichts von Katastrophen tröstende Worte findet", erklärt Dreyer. "Bei Trump gab es hingegen einen kurzen Ausdruck des Mitgefühls, und dann ging es sofort in den Wahlkampf und zu der Frage, wie man die Unruhen am besten ausnutzen kann." Trump scheine keine Gelegenheit auszulassen, die Auseinandersetzungen politisch zu nutzen.

Trump verzweifelt an niedrigen Umfragewerten

Wieso schwenkt Trump die Benzinkanister, während die Straßen in Los Angeles, Washington und New York brennen? Womöglich ist die Antwort gar nicht so komplex. Seit Beginn der Coronakrise purzeln Trumps Umfragewerte.

In vielen republikanischen Hochburgen führt Trump nur noch mit wenigen Prozentpunkten vor seinem Herausforderer Joe Biden. Gut 54 Prozent der Amerikaner haben mittlerweile eine negative Meinung über den Präsidenten, nur 42 Prozent unterstützen seine Amtsführung.

Einzelne Republikaner haben Trump mittlerweile die Unterstützung versagt. Trumps bestes Wiederwahl-Argument, die brummende Wirtschaft, ist zusammengebrochen, 40 Millionen Arbeitslose werden sich nur schwerlich motivieren lassen, die aktuelle Führung zu bestätigen. Längst hat sich herauskristallisiert, dass es unter den westlichen Demokratien nur wenige Länder geschafft haben, einen ähnlich desaströsen Umgang mit dem Coronavirus zu finden, wie die USA.

Trumps neuer Plan: "Law and Order"-Präsident als Taktik?

Deshalb gibt es auch die andere Perspektive, die Trump nicht als durchgedrehten Wüterich im Weißen Haus, sondern hinter den Absonderlichkeiten der letzten Wochen einen Schlachtplan sieht.

"Trump glaubt, sich als 'Law and Order'-Präsident positionieren zu können, um dadurch verängstigte Wähler außerhalb seiner Kernanhänger zu sich herüberziehen zu können", sagt Martin Thunert, Professor am Heidelberg Center for American Studies, im Gespräch mit unserer Redaktion. Jetzt gehe es darum, dass sich der progressive und radikalere Flügel der Demokraten, der sich stark aus jungen Aktivisten aus Minderheiten zusammensetzt, desillusioniert von Joe Biden abwendet. Wenn diese Gruppe aus Frustration zu Hause bleibe, stünden die Chancen gut für Trump, im November zu gewinnen.

Denn viele Amerikaner hätten sich mit der gesellschaftlichen Spaltung in ihrem Land mittlerweile abgefunden. "Viele Amerikaner ohne höhere Bildungsabschlüsse, die nicht Angehörige sozial schwächerer Minderheiten sind, fühlen sich 160 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei nicht mehr verpflichtet, auch nur das geringste Opfer für die Verbesserung der Lage Schwarzer zu erbringen", so Thunert. "Diese Amerikaner sehen sich als Weiße keinesfalls in einer privilegierten Position, sondern sagen, dass Schwarze ihre Chancen individuell ergreifen müssen, übersehen aber, dass Schwarze systematisch diskriminiert werden."

Dass sich daran in naher Zukunft etwas ändert? Möglich, sagt Amerikaexperte Thunert. "Niemand verteidigt diese Tat, im Gegenteil: Viele Polizisten solidarisieren sich mit den friedlichen Demonstranten. Sie wollen zeigen, dass der Polizist, der Floyd getötet hat, nicht die gesamte Polizei repräsentiert."

PD Dr. Martin Thunert ist Dozent und Politikwissenschaftler am Heidelberg Center for American Studies (HCA) der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg,
Professor Michael Dreyer forscht zu politischer Theorie und Ideengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und gilt als ausgewiesener Amerikaexperte.
Professor Michael Hochgeschwender ist Professor für Nordamerikanische Kulturgeschichte, Empirische Kulturforschung und Kulturanthropologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2016 legte er "Die Amerikanische Revolution: Geburt einer Nation” (C.H. Beck) vor.

Verwendete Quellen:

  • Washington Post – Police Shooting Database
  • Reuters/Ipsos-Poll: Most Americans sympathize with protests, disapprove of Trump's response
  • FiveThirtyEight – Approval Ratings USA
  • Ourdocuments.gov - Transcript of President Abraham Lincoln's Second Inaugural Address
  • The New York Times: America, We break It, It’s Gone (Op Ed)
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