• Grüne agieren in der aktuellen Regierung gegen jahrzehntelange Programmgrundsätze.
  • Neue Generation der Grünen ist mit den programmatischen Wandlungen in der Partei groß geworden.
  • Experte: Besonders die Anti-AKW-Haltung ist für viele Grüne noch zentral.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Michael Freckmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Im Sommer verkündete Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), dass die deutschen Kohlekraftwerke wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine länger laufen müssten. Und das, nachdem seine Parteianhänger seit Jahren für den Kohleausstieg gekämpft hatten. Nun sollen auch noch mindestens zwei Atomkraftwerke länger laufen als geplant. Und dies wird von einer Partei verantwortet, welche wegen des Anti-AKW-Protestes überhaupt erst gegründet wurde.

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Neben den energiepolitischen Fragen war es die grüne Haltung in der Rüstungspolitik, welche viele Beobachter in den letzten Monaten staunen ließ. Grünenpolitiker wie Anton Hofreiter wurden plötzlich zu den vehementesten Befürwortern von Waffenlieferungen an die Ukraine.

Politik-Experte: "Grüne können sich treu bleiben"

Entsteht so durch die Politik der Grünen in der Regierung auf lange Sicht ihr eigener "Agenda-Moment"? Als die SPD Anfang der 2000er Jahre die Arbeitsmarktreformen verabschiedete, führte dies zu einem Exodus ihrer Stammwähler. Die Partei hatte sich von ihrem wohlfahrtsstaatlichen Kern verabschiedet. Viele ehemalige Wähler und Mitglieder fanden sich bei der neu gegründeten Linken wieder. Ein Zustand, von dem sich die SPD lange nicht erholt hat.

Doch bisher schadet dieser Kurs den Grünen in den Umfragen nicht. "Weil sie sich treu bleiben – und treu bleiben können," sagt Volker Kronenberg, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn. Den Grünen seien in den letzten Jahren in der Umwelt- und Klimapolitik, aber auch in der Energiepolitik, hohe Kompetenzwerte zugeschrieben worden.

Viele Grüne hätten jahrelang die Abhängigkeit von Kohle, Öl und Gas aus autokratischen Regimen kritisiert. "Neben der Schädlichkeit fossiler Energien für das Klima kritisieren die Grünen auch diese Abhängigkeit schon seit Langem. Das macht sie glaubwürdig," sagt der Politikwissenschaftler.

Damit hängt es insbesondere für Robert Habeck nun davon ab, ob er in der Lage sein wird, diese Erwartungen seiner eigenen Wählerschaft zu erfüllen. Eine Enttäuschung könnte dann auftreten, wenn es ihm handwerklich nicht gut gelingt, das Land aus seiner fossilen Abhängigkeit zu befreien.

Der Angriffskrieg ermöglicht den Grünen, den Einsatz von Gewalt zu legitimieren

Entscheidend für den Erhalt der eigenen Glaubwürdigkeit ist zudem, wie solche Politikwechsel begründet werden. Volker Kronenberg verweist auf den Bundeswehreinsatz im Kosovo-Krieg 1999, der bei den Grünen hochumstrittenen war. Außenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) begründete diesen damals so, dass sich Auschwitz nicht wiederholen dürfe. Der Gedanke der Gewaltfreiheit wurde in dieser Frage dadurch überwunden, dass unter Einsatz von Gewalt ein Völkermord verhindert werden sollte.

Aktuell sei das entscheidende Argument die "Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine", so Kronenberg. Diese Argumentation ermögliche es der grünen Parteiführung, viele der grundsätzlich pazifistisch geprägten eigenen Anhänger von ihrer Politik zu überzeugen. Und tatsächlich können die Grünen mit dieser Argumentation offenbar in ihrer eigenen Wählerschaft punkten. Dies zeigt sich auch in Umfragen. Im ARD-DeutschlandTrend treten die Anhänger der Grünen am stärksten im Vergleich zu allen anderen Parteien für eine entschlossene militärische Unterstützung der Ukraine ein.

Auch ein weiterer Umstand hilft der Parteiführung. Die aktuellen Grünen sind nicht mehr die Grünen der 80er und 90er Jahre. In der Zeit der Rot-Grünen Bundesregierung von 1998 bis 2005 prägten die nach ihren Galionsfiguren benannten "Generationen Fischer und Trittin" die Partei. Es waren die von "68" geprägten Männer und Frauen, welche die Grünen mit gegründet hatten. Diese seien mittlerweile abgelöst worden, bemerkt der Bonner Politologe Kronenberg.

Die aktuelle Führung um Omid Nouripour, Ricarda Lang, Annalena Baerbock und Robert Habeck entstammen einer anderen Generation. Auch die Hälfte der gegenwärtigen Mitglieder der Grünen seien heute unter 50 Jahre alt, so Kronenberg. Zuletzt weist der Politikwissenschaftler darauf hin, dass die heute mittlere und junge Generation mit den programmatischen Wandlungen in der Partei groß geworden sei.

Aktuelle Kernkraftthematik ist für viele Grünen-Anhänger eine Belastungsgrenze

Dass derzeit die Grünen mit ihrem Kurs ohne Blessuren im eigenen Lager auskommen, gibt jedoch keine Garantie für die Zukunft. So sei der Absturz von Robert Habeck in der Wählergunst ein "Warnsignal", sagt Tilman Mayer, ebenfalls Professor für Politikwissenschaft, an der Universität Bonn. Die hohe Zustimmung für Außenministerin Baerbock würde diesen Einbruch in den Sympathiewerten momentan noch kompensieren.

Ebenfalls ermögliche es die breite personelle Aufstellung mit Annalena Baerbock, Robert Habeck, Cem Özdemir und Anton Hofreiter den Grünen, gleichzeitig unterschiedliche Lager anzusprechen, sagt Mayer. Auch dies kann Enttäuschungen auf der einen Seite durch Zugewinne in anderen Bereichen wieder wettmachen.

Für die Kernwähler sei nach wie vor der Klimaschutz identitätsstiftend, erklärt der Politologe Mayer. Dass die Grünen-Wähler derzeit zu den Bestverdienenden gehörten, ermögliche diesen erst, die Klimafragen für sich an erste Stelle zu setzen. Alle anderen Krisen würden danach zurückstehen, so Mayers Einschätzung. Demzufolge könnte dies der grünen Führung etwas mehr Luft geben, da die grüne Basis auf andere Krisen weniger empfindlich reagiere.

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Umso vorsichtiger müssten die Verantwortlichen bei den Grünen jedoch bei deren "Essentials" sein, wie der Bonner Politologe Mayer es nennt. Hierzu gehörten etwa immer noch grundsätzlich der Pazifismus, aber vor allem die Anti-AKW-Haltung der Parteibasis. Hier gelte bei aller aktuell gezeigter Gelassenheit der Basis langfristig trotzdem: "Jeder Schwenk Richtung Realpolitik ist ein Risiko, dass die Anhängerschaft von der Stange geht," so Mayer.

Darauf scheint aktuell auch die derzeit im Vergleich zu den Grünen schlecht dastehende FDP zu spekulieren. Denn gerade spitzt sich der Streit innerhalb der Bundesregierung zwischen FDP und Grünen um die AKW-Frage dramatisch zu. Und es erklärt, warum die Grüne Führung in dieser Frage sich bisher wenig kompromissbereit gezeigt hat – weil sie eigentlich kaum Spielraum hat.

Über die Experten:
Volker Kronenberg, Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Er forscht und lehrt zu zeithistorischen, geistes- und parteiengeschichtlichen Aspekten, sowie Gegenwartsanalysen von Demokratie, Parlamentarismus und politischer Kultur.
Tilman Mayer, em. Professor für Politische Theorie, Ideen- und Zeitgeschichte am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seine Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Politische Kulturforschung, Demoskopie, Parteienforschung und Demografiepolitik.

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Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Volker Kronenberg
  • Gespräch mit Tilman Mayer
  • Infratest Dimap: ARD-DeutschlandTrend, Oktober II, 2022
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