Deutschland wirbt händeringend um Fachkräfte aus dem Ausland. Was Deutschland von der Erfahrung mit den "Gastarbeitern" in den 1960er-Jahren gelernt hat und ob die Bundesrepublik überhaupt attraktiv für Fachkräfte ist, erklärt Dr. Niklas Harder vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung.

Eine Analyse
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Deutschland wirbt händeringend um Fachkräfte. Diese sind bitter nötig: Der stellvertretende Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Achim Dercks, warnt bei der Vorstellung des jüngsten DIHK-Fachkräftereports: "Das Fehlen von Fachkräften belastet nicht nur die Betriebe, sondern gefährdet auch den Erfolg bei wichtigen Zukunftsausgaben: Energiewende, Digitalisierung und Infrastrukturausbau."

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Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) gibt für den Mangel drei wesentliche Entwicklungen an: Zum einen ist Deutschland eine alternde Gesellschaft, in der mehr Erwerbstätige in Rente gehen, als nachrücken. Diese Entwicklung wird in den kommenden Jahren weiter an Fahrt aufnehmen. Gleichermaßen hat die Digitalisierung zu einem umfassenden Wandel im gesamten Arbeitsmarkt geführt. Während sich viele Jobs in ihrem Aufgabenprofil wandeln, entstehen gleichermaßen zusätzliche Beschäftigungsfelder mit neuen Anforderungen.

Außerdem spielt der Kampf gegen den Klimawandel eine zentrale Rolle. Denn die Reduzierung von CO2-Emissionen schafft wie die Digitalisierung neue Jobs, die andere Qualifikationen voraussetzen. Nicht grundlos sehen mehr als die Hälfte der Betriebe laut einer aktuellen Studie des Deutschen Industrie- und Handelskammertags im Fachkräftemangel eine Gefahr für ihre Wertschöpfung. Viele Unternehmen klagen, sie könnten ihre Stellen nicht mehr mit den entsprechenden Fachkräften besetzen.

Parallele zu den Gastarbeitern? Migrationsexperte erklärt ersten Fehler

Nach Zahlen des BMWK herrscht in 352 von 801 Berufsgruppen Fachkräftemangel und laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft beläuft sich die Fachkräftelücke auf 533.000. Unter der Fachkräftelücke werden diejenigen offenen Stellen zusammengefasst, die rein rechnerisch nicht besetzt werden konnten. Dementsprechend ernst bewertete Wirtschaftsminister Robert Habeck die Lage beim Fachkräftegipfel im September 2022.

"Neben all den anderen Herausforderungen, die uns und dieses Land gerade drücken – hohe Energiepreise, poröse Lieferketten, blockierte Absatzmärkte – ist der strukturelle Wandel der Arbeitswelt und die fehlenden Fachkräfte eines der großen Problemkinder der Politik für einen wirtschaftlichen Aufschwung und für Wohlstand und Wachstum in Deutschland", sagte der Vizekanzler. Dementsprechend befassen sich die Bundesregierung und der Bundestag mit Maßnahmen gegen den Mangel an Fach- und Arbeitskräften.

Eine ähnliche Situation hatte Deutschland im Zuge des sogenannten "Wirtschaftswunders" in der Nachkriegszeit zu bewältigen. Als Reaktion auf den akuten Mangel an geeigneten Arbeitskräften war in den 1960er-Jahren das sogenannte Anwerbeabkommen mit der Türkei abgeschlossen worden, das zur Einwanderung der als "Gastarbeiter" betitelten Fachkräfte führte. In dieser Betitelung liegt laut Niklas Harder, Co-Leiter der Abteilung Integration beim Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, schon der erste Fehler begraben: "Man dachte nicht, dass die 'Gäste' bleiben würden", erklärt er im Gespräch mit unserer Redaktion.

Integrationsforscher kritisiert: Deutschland hat Integration aktiv verhindert

"Das ist natürlich von Grund auf abwegig: Wenn jemand sein Erwerbsleben irgendwo arbeitet, mitunter Familie und Kinder dort hat, dann zieht er nicht einfach wieder weg", sagt der Experte. Deutschland habe die Situation in den 1960er-Jahren falsch eingeschätzt und keine Unterstützung für eine gelungene Integration angeboten: "Es gab keine Integrationsangebote, keine Sprachkurse – die es heutzutage glücklicherweise gibt – und keine Förderung der Einwanderer. Im Gegenteil hat man viel mehr Integration aktiv verhindert. Es gab eine Art Wohnsegregation mit extra Unterkünften für die Gastarbeiter", beschreibt Harder.

Das erste Anwerbeabkommen hatte die Bundesrepublik am 20. Dezember 1955 mit Italien geschlossen, auf das zunächst Griechenland und Spanien (1960) folgten, bis es dann zum wohl berühmtesten Anwerbeabkommen mit der Türkei im Jahr 1961 kam. Das Dokument wurde am 30. Oktober 1961 in Bad Godesberg in der Nähe der damaligen Bundeshauptstadt Bonn unterzeichnet und umfasste zunächst lediglich zwei Seiten. Zu Beginn durften nur unverheiratete türkische Männer einreisen und für maximal zwei Jahre bleiben. In den ersten Jahren zog es nach Zahlen des NDR rund 870.000 Menschen aus der Türkei in die Bundesrepublik.

Die Sammelunterkünfte und der ausbleibende Kontakt zur deutschen Gesellschaft waren für diese Anfangszeit charakteristisch. In Folge des Anwerbestopps aufgrund der Rezession und der Ölkrise Anfang der 1970er-Jahre kam es zu ersten Verbesserungen, wie der Möglichkeit der Verlängerung des Aufenthalts oder des Familiennachzugs. "Nach dem Anwerbestopp 1973, als klar wurde, dass die Menschen hierbleiben würden, kam erst die Frage nach der Integration auf", sagt Harder.

Was wir von den "Gastarbeitern" lernen sollten: Forderung struktureller Veränderungen

"Als in der Gesellschaft sichtbar wurde, dass die bewusst von ihr abgetrennte Gruppe der Gastarbeiter gekommen war, um zu bleiben, wurde Integration vor allem als Forderung formuliert. Ganz nach dem Motto: 'Wir haben uns nicht um eure Integration geschert, aber jetzt wollen wir, dass es schnell geht.' Das konnte nicht funktionieren", erklärt der Experte. In Bezug auf die mögliche Einwanderung von Fachkräften in der Gegenwart lasse sich auf gesellschaftlicher Linie die Lehre ziehen, dass eine plötzliche Forderung nach Integration kaum erfolgreich sein könne – es brauche im Gegenteil strukturelle Veränderungen.

"Natürlich gibt es viele individuelle Erfolgsgeschichten, aber insgesamt zeichnet sich ein heterogenes Bild. Mir kommt es so vor, als sei durch diese sehr einmalige und spezielle Situation um die Gastarbeiter eine grundsätzliche Skepsis gegenüber Einwanderung und im Besonderen auch gegenüber Fluchtmigration resultiert. Man muss sich das mal überlegen: Es gab noch bis in die 1990er-Jahre Arbeitsverbote für Geflüchtete. Wir hatten in Deutschland lange ein merkwürdiges Nebeneinander: Wir fordern Integration, aber hindern die Menschen institutionell", erklärt der Migrationsforscher.

Erst ab dem Jahr 2000, mit der Flüchtlingsbewegung aus dem ehemaligen Jugoslawien, sei es zu signifikanten Verbesserungen gekommen: "Es kam zu einem proaktiveren Herangehen mit Sprachkursen, Integrationskursen und einer schnelleren Arbeitsmarktintegration. Die Ausländerbehörden befinden sich aber beispielsweise auch heute noch in einem Kulturwandel."

Experte kritisiert: So schaffen wir Segregation statt Integration

Mögliche Verbesserungen hat die Ampel im Juni 2023 auf den Weg gebracht. Mit einem neuen Gesetz sollen hoch qualifizierte Akademiker, aber auch Menschen aus Fachberufen, in denen in Deutschland Mangel herrscht, ins Land geholt werden. Erleichterungen soll es für Fachkräfte und Hochschulabsolventen mit einem anerkannten Abschuss und einem gültigen Arbeitsvertrag geben. Darüber hinaus soll es eine vereinfachte Anerkennung von Berufserfahrung geben.

Neu ist darüber hinaus die Kategorie der Menschen "mit Potenzial". Diese können sich auch ohne Arbeitsvertrag auf eine "Chancenkarte" bewerben, für die ein Punktesystem nach dem Vorbild von Kanada eingeführt werden soll. Im Gesetzentwurf ist die Rede von einer Erhöhung der Zuwanderung von Fachkräften um bis zu 60.000 pro Jahr. Bundesinnenministerin Nancy Faeser frohlockt in ihrer Rede im Bundestag: "Wir haben heute das modernste Einwanderungsrecht der Welt beschlossen."

Doch ob diese Änderungen alleine ausreichen, darf zumindest bezweifelt werden: "Eine Lektion, die wir noch lernen müssten, ist folgende: Mangelberufe, die unattraktiv, also schlecht bezahlt sind, können nicht einfach durch Migration gefüllt werden. Auch Menschen aus dem Ausland empfinden einen Job unter schlechten Bedingungen als unattraktiv", sagt der Integrationsforscher.

"Wenn wir unattraktive Jobs durch Einwanderung auffüllen wollen, dann schaffen wir Segregation. Und das liegt dann nicht an den Individuen, sondern an der Struktur", erklärt Harder. An manchen Stellen komme es auch zu Inkompatibilitäten. Pflegeberufe seien beispielsweise in vielen anderen Ländern höher qualifiziert. "Als dann zum Beispiel brasilianische Pflegekräfte nach Mecklenburg-Vorpommern angeworben wurden, haben sie schnell gemerkt, dass sie überqualifiziert und unterbezahlt sind. Folgerichtig sind viele wieder gegangen."

Integrationsforscher fordert: Entbürokratisierung und Prozessoptimierung

Diese Erfahrungen verwiesen laut Harder auf eine weitere zentrale Komponente: die Anerkennung von Qualifikation und Berufserfahrung. "Wenn wir Leute holen wollen, dann wollen die äquivalent arbeiten. Wenn das aber aufgrund langwieriger und komplizierter Prozesse nicht geht, dann ist das für diese Menschen frustrierend und sie wenden sich anderen Ländern zu", erklärt der Migrationsforscher. Von außen sei es nach wie vor sehr schwierig, in den deutschen Arbeitsmarkt einzusteigen. Das liege auch an der Überbürokratisierung der Prozesse.

"Versuchen sie mal, online einen Termin bei der deutschen Botschaft in Accra zu buchen und ein D-Visum (Visum für längerfristige Aufenthalte; Anm. d. Red.) zu beantragen. Ich versuche das immer mal wieder und nie ist ein Termin frei. Bei jedem Visumsprozess sind drei Behörden involviert: das Auswärtige Amt, die jeweilige Ausländerbehörde und das Bundesamt für Arbeit. Und wenn die Menschen es geschafft haben, hierherzukommen, müssen sie den gesamten Prozess nochmal durchlaufen. Dafür hat Deutschland aber eigentlich gar nicht die notwendigen Kapazitäten."

Während der Gastarbeiteranwerbung hatte Deutschland Vertretungen der Arbeitsämter in der Türkei aufgebaut und so die notwendigen Kapazitäten geschaffen. Harder fordert dagegen einen anderen Ansatz: "Wir brauchen eine Entbürokratisierung und müssen uns an anderen Ländern orientieren. Die USA haben ein aufwändiges Prüfverfahren, bevor die Leute einreisen. So wie wir auch. Aber sie führen dieses nur einmal durch. Wenn die Menschen ankommen, ist alles erledigt und sie müssen sich um nichts mehr kümmern", beschreibt Harder. Dementsprechend nannten 52 Prozent der Umfrageteilnehmer in der Studie des Deutschen Industrie- und Handelskammertages auf die Frage, welche Rahmenbedingungen bei der Fachkräftesicherung helfen würden, den Bürokratieabbau.

Integrationsexperte Harder: Wenn wir das ändern, kann Integration gelingen

Entbürokratisierung kann auch zu einem gelungenen Start und besserer Integration führen: "Forschungsergebnisse zeigen, dass die ersten Wochen und Monate bei Ankunft in einem neuen Land entscheidend sind", berichtet Harder. Neben all den strukturellen und institutionellen Faktoren ist bei der Frage nach dem Zuzug hoch qualifizierter Zuwanderer und Fachkräfte aber gleichermaßen die Frage nach der politischen Kommunikation und gesellschaftlichen Akzeptanz zu stellen.

Denn während Deutschland einerseits auf Zuwanderung angewiesen ist, scheint die AfD im derzeitigen Umfragehoch den Diskurs weiter zu verschieben. "Ich glaube, die Gesellschaft ist da sehr heterogen", meint Harder. "Durch die Freizügigkeit in der Europäischen Union und durch den Zuzug vergangener Jahre und Jahrzehnte sind in Deutschland sehr pluralistische Communities entstanden." Gleichzeitig beobachte man eine Diskursverschiebung zu mehr Ablehnung und Skepsis. Aufgrund des dysfunktionalen Dublin-Systems auf EU-Ebene lasse sich leicht ein Gefühl von Kontrollverlust konstruieren. Doch Fluchtmigration und Fachkräfteeinwanderung sind zwei verschiedene Dinge.

"Man muss da sehr differenziert und genau kommunizieren", fordert der Migrationsforscher. "Wir dürfen nicht vergessen: Da wollen grundsätzlich motivierte Leute zu uns, die eine schwerwiegende Entscheidung für ihr Leben getroffen haben. Und unsere aktuellen Regelungen bremsen jede Eigeninitiative aus. Wenn sich das ändert, kann Integration gelingen."

Zur Person: Dr. Niklas Harder ist Co-Leiter der Abteilung Integration am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung und assoziiertes Mitglied des Immigration Policy Labs an der Stanford University. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Integration und politische Partizipation. Das Interview wurde telefonisch geführt.

Verwendete Quellen:

  • bmi.bund.de: Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung
  • bmi.bund.de: Fachkräfteeinwanderungsgesetz
  • dihk.de: Fachkräfteengpässe – weiter steigend. DIHK-Report Fachkräfte 2022
  • dihk.de: Trotz schwieriger Wirtschaftslage: Fachkräfteengpässe nehmen zu
  • kofa.de: Fachkräftereport Dezember 2022
  • ndr.de: Almanci – Als die "Gastarbeiter" nach Deutschland kamen
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