• Rostock-Lichtenhagen erlebt im August 1992 die schwersten ausländerfeindlichen Ausschreitung seit dem Zweiten Weltkrieg.
  • Mehr als 100 Vietnamesen retten sich aufs Dach des brennenden Sonnenblumenhauses.
  • Polizei und Politik geben während der Krawalle ein denkbar schlechtes Bild ab.

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Ein Montagabend im Sommer 1992. Die Uhr zeigt etwa 20 Uhr, als der deutsche Staat kapituliert. Hunderte Randalierer, größtenteils jugendliche Neonazis, hatten die Beamten vor dem Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen, in dem sich die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZASt) befindet, seit dem frühen Abend attackiert. Den dritten Tag in Folge. Steine, Flaschen und Molotowcocktails fliegen unaufhörlich in Richtung der Beamten.

Und dann geschieht das Undenkbare: Die Staatsmacht zieht sich zurück. "Alle, die hier vor Ort sind, können es nicht fassen", sagt der Rostocker Ausländerbeauftragte Wolfgang Richter live im ZDF. Es ist der schlimmste Tag der schwersten ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Aber das allerschlimmste sollte erst noch kommen.

Fassungslos und verstört reagieren die gut 130 Vietnamesen, die einst als DDR-Vertragsarbeiter ins Land geholt worden waren, auf den Rückzug der Polizei. Ihr Wohnheim befindet sich in dem markanten Plattenbau mit den drei Sonnenblumen auf der Fassade. Nach der Räumung der ZaSt am Montagnachmittag trifft der Hass des Mobs sie mit voller Wucht.

Kurz nachdem sich die Polizei zurückzieht, fliegen schon die ersten Molotowcocktails durch die Scheiben des elfstöckigen Gebäudes. Kanisterweise war Benzin für Brandsätze herangeschleppt worden. Die Menge auf der Wiese johlt und klatscht, peitscht die Randalierer immer weiter nach vorne. Einige von ihnen verschaffen sich mit Baseballschlägern und Beilen Zutritt ins Innere. Bald brennen mehrere Räume lichterloh. Die Flammen fressen sich nach oben. Die Vietnamesen, der Ausländerbeauftragte und ein eingeschlossenes ZDF-Kamerateam flüchten panisch aufs Dach.

Die Bilder gehen um die Welt. Bilder eines hässlichen Deutschlands, das in den Jahren nach der Wiedervereinigung immer wieder mit fremdenfeindlichen Anschlägen Schlagzeilen macht. "Ich hatte diesen Hass auf fremde Kulturen, auf Menschen, die aus Kriegsgebieten zu uns kamen, noch nie so in dieser Form, in dieser Dimension erlebt", sagt der damalige Polizist und heutige Rostocker Polizeichef Michael Ebert in einer TV-Doku.

Perspektivlosigkeit und Abstiegsängste bei Flüchtenden

Anfang der 90er Jahre kommen infolge des Bürgerkriegs in Jugoslawien Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland. Stimmungsmache gegen Zuwanderer ist nicht nur bei rechten Parteien wie NPD und den Republikanern verbreitet, sondern auch bei der regierenden CDU/CSU. Die Union will das Asylrecht massiv verschärfen, die SPD sperrt sich. Den Krawallen geht eine untragbare Situation vor der völlig überlasteten Asylbewerber-Aufnahmestelle voraus.

Vor allem Sinti und Roma aus Rumänien campieren Wochen bis Monate im Umfeld des Gebäudes. Ohne Toiletten, die die Stadt nicht zur Verfügung stellen will. Ohne Verpflegung. In umliegenden Geschäften soll es zu Diebstählen gekommen sein. In zeitgenössischen Dokus äußern sich Anwohner offen rassistisch, sie fordern ein Ende der Zustände.

Es passiert lange: nichts. Schließlich rufen Neonazis zu Protesten auf, verbunden mit der Forderung, die Aufnahmestelle zu schließen. In den neuen Bundesländern ist die Arbeitslosigkeit nach den Massenentlassungen in der Wendezeit hoch. Perspektivlosigkeit, Abstiegsängste, fehlende Erfahrungen mit anderen Kulturen und hohe Zuwanderungszahlen sind ein idealer Nährboden für Ressentiments.

Rechtsradikale pilgern nach Rostock

Am Samstagabend fliegen vor dem Sonnenblumenhaus die ersten Steine. Rund 2.000 Menschen haben sich versammelt, manche grölen "Sieg Heil" oder "Deutschland den Deutschen, Ausländer aus". Rund 200 von ihnen, größtenteils Jugendliche aus Rostock, attackieren Gebäude und Polizeibeamte. In den kommenden Tagen spitzt sich die Situation immer weiter zu.

Rechtsradikale aus anderen Bundesländern pilgern nach Rostock, um ihre Gewalttätigkeit vor Ort auszuleben. Die Staatsmacht ist heillos überfordert. Weder Politik noch Polizei können sich zu entschlossenem Handeln durchringen. "Passivität bestimmte das dienstliche Geschehen", urteilte ein Polizeiführer laut Spiegel in seinem Einsatzbericht. Polizist Ebert erinnert sich: "Wir sind in den Einsatz gegangen, ohne dass wir wussten, was uns da erwarten wird." Die Polizei sei nicht taktisch gegliedert gewesen, hätte nicht die entsprechende Fahrzeugtechnik und Schutzausstattung gehabt. Sogar Ausbildungspersonal wurde herangezogen.

Der Deutschlandfunk berichtet von Polizei-Hundertschaften, die in der Nachbarschaft standen und keinen Einsatzbefehl bekamen. Auch nicht auf Nachfrage. "Man hat sie nicht angefordert, sie haben zugesehen. Warum auch immer", erzählt der damalige ZDF-Journalist Jochen Schmidt, der mit in dem Haus eingeschlossen war. Lag es auch daran, dass viele leitende Polizisten, die aus den alten Bundesländern stammten, übers Wochenende in die Heimat gefahren waren?

War die Eskalation in Rostock-Lichtenhagen politisch gewollt?

Es ist ein Versagen auf höchster Führungsebene, das sich auch am Montag fortsetzt. Der damalige Rostocker Polizeichef Siegfried Kordus fährt gegen 20.10 Uhr für drei Stunden zum Hemdenwechsel nach Hause. Anstatt den übermüdeten Einsatzleiter Jürgen Deckert abzulösen oder für einen Wachwechsel zu sorgen. Auch Mecklenburg-Vorpommerns CDU-Innenminister Lothar Kupfer zieht sich fast zeitgleich in die eigenen vier Wände zurück, um "mal die Wäsche zu wechseln und unter die Dusche zu gehen". Seine spätere Begründung: Seine Abwesenheit sei durch die Lage "ohne Weiteres" möglich gewesen. Ein Trugschluss.

Während dieses Führungsvakuums tobt auf den Straßen in Lichtenhagen eine immer brutalere Straßenschlacht. Bis die Polizei klein beigibt. Bis das Sonnenblumenhaus in Flammen steht. Der entgeisterte Ausländerbeauftragte Richter ruft die Beamten auf der Polizeiinspektion Lütten Klein an und berichtet vom Feuer. Man habe ihm geantwortet: "Sind denn die Flammen schon so schlimm, dass eine Feuerwehr gebraucht wird?" Sind sie. Doch das ist dem Mob egal.

Mehr als eine Stunde versperren die Randalierer der Feuerwehr den Weg zu den Löscharbeiten. Erst gegen 23 Uhr kommt die Polizei zurück, die Feuerwehr kann die Menschen fast zeitgleich vom Dach evakuieren. Die Krawalle gehen noch zwei Tage weiter, bis endgültig Ruhe einkehrt.

Nur drei Täter werden später zu Haftstrafen verurteilt, obwohl es rund 250 Strafverfahren gibt und 375 Personen festgenommen werden. Hinzu kommen 65 verletzte Polizeibeamte. Die Verfahren gegen Polizeichef Kordus und Einsatzleiter Deckert werden eingestellt.

Die deutsche Politik reagiert größtenteils empathielos auf die Ausschreitungen. Der Bundestag instrumentalisiert die Taten politisch und verschärft kurz darauf das Asylrecht – mit breiter Mehrheit. Der frühere ZDF-Journalist Schmidt hat ein Buch über die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen geschrieben. Schmidt ist davon überzeugt, dass die Verantwortlichen die Ausschreitungen vorsätzlich eskalieren ließen, um die SPD zum Einlenken bei der geplanten Asylrechtsverschärfung zu bewegen. Sein Buch heißt "Politische Brandstiftung".

Verwendete Quellen:

  • Spiegel Online: "Wenn man von unten Schreie hört"
  • NDR: "Rostock-Lichtenhagen: Wo sich der Fremdenhass entlud"
  • NDR: "Die Narbe: Der Anschlag in Rostock-Lichtenhagen"
  • MDR: "Rostock-Lichtenhagen 1992: Ein Polizeidebakel"
  • Deutschlandfunk Kultur: "Der Sündenfall"
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