Deutschlands Straßen sind in Zeiten der Coronakrise deutlich leerer – knapp 30 Prozent weniger Verkehr rollt durch die Ballungsgebiete. Müsste das die Luft nicht sauberer machen? Ein Vergleich der Feinstaubwerte spricht eine andere Sprache – doch der trügt. Experte Prof. Nino Künzli erklärt, wieso.

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Schnell gingen die Bilder um die Welt: Klares Wasser in den Kanälen Venedigs, Delfine im Hafen von Cagliari auf Sardinien, Wildtiere in verlassenen Hotels in Mexiko. Während die Coronakrise für die Menschen vor allem negative gesundheitliche und soziale Folgen hat, freut sich Mutter Natur über eine Phase des Durchatmens. Aber macht der Lockdown samt reduziertem Flug- und Autoverkehr auch die Luft sauberer? Die Messwerte der deutschen Feinstaub-Hotspots sprechen auf den ersten Blick jedenfalls eine andere Sprache. Sie sind an den meisten Messstellen gestiegen!

Beispiel Stuttgart: Die Messstation am Neckartor gibt für den 2. März 2020 einen Tagesmittel-Feinstaub-Wert von 17 Mikrogramm pro Kubikmeter [μg/m3] an. Damals zählt das Robert-Koch-Institut etwa 500 Coronafälle in Deutschland. Italien hat zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Städte abgeriegelt, hierzulande aber sind noch keine Maßnahmen in Kraft. Heißt: Der motorisierte Verkehr nimmt seinen normalen Gang – die Menschen fahren zur Arbeit, zu Freunden, zum Supermarkt.

Hotspots messen höhere Feinstaubwerte

Ein Blick auf die Daten sechs Wochen später: Dieselbe Messstation zeichnet am 13. April – Kontaktsperren und Geschäftsschließungen sind zu diesem Zeitpunkt längst in Kraft – einen Wert von 18 μg/m3 auf – also einen höheren Wert als vor den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Coronavirus. Zufall? Ein ähnliches Bild in München: An der Landshuter Allee steigt der Feinstaubwert von 11 auf 18 μg/m3, auch in Reutlingen liegt er am 13. April im Tagesmittel bei 17 μg/m3 – sechs Wochen zuvor noch bei 10 μg/m3. Auch die Feinstaub-Hotspots Essen, Hagen, Berlin Neukölln und Ludwigsburg zeichnen denselben Trend.

Vergleicht man die Feinstaubwerte im April 2020 - während die Lockdown-Maßnahmen in Kraft sind – mit denen aus dem Vorjahr (April 2019) ist das Bild gemischter. An den neun Hotspot-Stationen, die üblicherweise deutsche Spitzenwerte aufweisen, Stuttgart, München, Gelsenkirchen, Reutlingen, Görlitz, Berlin Neukölln, Ludwigsburg, Hagen und Essen liegen die Feinstaubwerte in fünf Fällen am 17. April 2020 höher als am selben Tag im Vorjahr.

Feinstaub hat mehrere Quellen

Wie kann es sein, dass der Autoverkehr teilweise um 30 Prozent rückläufig ist – die Feinstaubwerte aber steigen? Der Mediziner Nino Künzli arbeitet am Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut. Seit fast drei Jahrzehnten erforscht der Gesundheitsexperte den Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Krankheiten.

Künzli stellt klar: "Die Luftverschmutzung hat ihre regional teilweise unterschiedlichen Emissionsquellen. Innerhalb der Regionen und Länder sind diese Emissionen bekannt und auch gut voraussagbar." Heißt konkret: Nicht nur Autos produzieren Feinstaub, sondern beispielsweise auch Abfallverbrennungsanlagen, Tierhaltung und bestimmte Industrieprozesse. "Wo mit Holz geheizt wird sind in der Heizsaison Holzheizungen eine dieser bekannten Quellen", erklärt Künzli die Schwankungen.

Lockdown reduziert Emissionsquellen

"Der Lockdown hat ohne Zweifel auch einige - aber nicht alle - Quellen massiv reduziert", kommentiert der Wissenschaftler. "Es wird dann auch quantitativ gezeigt werden können, dass und wie viel die Konzentrationen wegen des Lock-Downs tiefer sind als sie ohne Lockdown wären", so der Experte. Im Klartext: Ohne die aktuellen Maßnahmen dürften die Messwerte an den genannten Stationen noch höher liegen.

Künzli nennt einen weiteren wichtigen Faktor, der die Feinstaub-Werte beeinflusst: Das Wetter. "Ohne Schwankungen von Meteofaktoren würde alles jeden Tag exakt den Emissionen folgen und somit entsprechend stabil und voraussagbar bleiben", so der Mediziner. Doch das Wetter sorge dafür, dass zum Beispiel an manchen Wochentagen Saharastaub nach Deutschland wehe oder Inversionslagen auftreten – deshalb könne es trotz Lock-Down zu höheren Feinstaubbelastungen kommen.

Blick in eine emissionsärmere Zukunft?

Lässt die Coronakrise also doch einen Blick in eine emissionsärmere Zukunft zu? In Sachen Feinstaub ist jedenfalls noch Geduld gefragt, bis Ergebnisse ablesbar werden. "Dass der Lockdown von wichtigen Emittenten keinen Einfluss auf die Luftqualität hat – verglichen mit der theoretischen Situation ohne Lockdown dieser Quellen – ist gar nicht möglich", unterstreicht Künzli. Doch der Experte warnt zugleich: "Wegen besagtem zentralen Wettereinfluss ist es unwissenschaftlich, auf die Schnelle die Daten anzuschauen und zu rufen: 'Es passiert ja gar nichts!'" Vorsicht sei geboten und Berechnungen im Nachhinein, die unterschiedliche Variablen miteinbezögen, notwendig.

"Wenn man auf die Schnelle etwas wissen möchte dann müsste man wenigstens auf das Richtige und am richtigen Ort schauen: Das könnte ein von ganz lokalen Quellen dominierter Schadstoff wie etwa Kohlenmonoxid, ultrafeine Partikel und durchaus auch Stickstoffdioxid sein", rät Künzli. Diese Schadstoffe seien unter anderem vom Verkehr stark beeinflusst. "An einer stark befahrenen Straße werden sich vor und nach dem Lock-down sicher Veränderungen zeigen, falls der Verkehr auf diesem Straßenabschnitt auch wirklich abnahm", so Künzli.

Stickstoffwerte deutlich reduziert

Und tatsächlich: Die öffentlichen Daten des Umweltbundesamtes zeigen an allen zuvor genannten Messstationen geringere oder etwa gleichbleibende Stickstoffdioxid-Werte (NO2) im Vergleich zwischen Anfang März und Mitte April. In Stuttgart an der Messstation "Am Neckartor" sank der NO2-Wert dabei sogar von 71 auf 8 μg/m3, in Hagen von 55 auf 10 μg/m3, in Essen von 23 auf 10 μg/m3 und in Gelsenkirchen von 36 auf 7 μg/m3.

Künzli ordnet ein: "Für stark aus sekundären Prozessen beeinflussten und langlebigen großräumigen Schadstoffen wie zum Beispiel Feinstaub sind solche ‚banalen‘ Zusammenhänge nicht zu erwarten." Nur weil die positive Wirkung der Emissionsreduzierung nicht sofort sichtbar ist, ist es dennoch falsch, zu suggerieren, sie bringe gar nichts. So tut es beispielsweise Alexander Neubacher in einer Kolumne des "Spiegel".

Lektion für die Umweltpolitik

"Man weiß seit langem, dass Emissionseinschränkungen ganz kurzfristig nicht unbedingt zu absoluten Abnahmen der Konzentrationen führen", erinnert Künzli.

So lehrt die Coronakrise neben vielen wichtigen Erkenntnissen auch eine Lektion in Sachen Umweltpolitik: "Kurzfristige Notfallmassnahmen waren noch nie und werden auch nie ein gutes luftreinhaltepolitisches Instrument sein. Die Luftreinhaltepolitik muss auf nachhaltigen soliden und im ganz normalen Alltag wirksamen Maßnahmen beruhen - keine Feuerwehrübungen, kein 'Smog-Aktivismus'", fordert Künzli.

Über den Experten:
Prof. Dr. Nino Künzli ist Epidemiologe und Mediziner und Departementsleiter am Schweizerischen Tropen-und Public Health Institut in Basel. Er erforscht seit Jahrzehnten den Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Krankheiten und entwickelt für die WHO wissenschaftliche Empfehlungen zur Luftreinhaltung.

Verwendete Quellen:

  • Daten des Umweltbundesamtes
  • Kolumne von Alexander Neubacher im "Spiegel"
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