• Bundesweit liegt die 7-Tage-Inzidenz bei 213,7 – so hoch wie noch nie seit Pandemiebeginn
  • In Debatten zur Pandemiebekämpfung scheint der Wert wieder eine wichtige Rolle zu spielen.
  • Noch vor wenigen Wochen hieß es, die Inzidenz verliere an Aussagekraft. Epidemiologe Rafael Mikolajczyk erklärt, bei welchen Fragen die Inzidenz aber weiterhin wichtig bleibt.

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"Sieben-Tage-Inzidenz steigt auf neuen Höchststand", "Inzidenz erreicht höchsten Wert seit Pandemiebeginn" und "Inzidenz steigt weiter auf 232,1" – Schlagzeile wie diese bestimmen derzeit wieder die Medienlandschaft. Hatte die Wochen-Inzidenz noch im Juli bei nur 5 gelegen, ist sie inzwischen auf über 200 gestiegen. Besonders hoch ist sie in Sachsen, Bayern und Thüringen.

Die Inzidenz ist deshalb wieder in aller Munde. Aber hatte die Wissenschaft nicht zuletzt angeraten, nicht mehr nur auf Fallzahlen zu starren, sondern andere Werte bei politischen Entscheidungen zu Rate zu ziehen? "Mit steigender Impfrate verliert die Inzidenz an Aussagekraft", hatte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) noch Ende Juli gesagt.

Experte: "Wert ist nicht überflüssig"

Und auch Epidemiologe Rafael Mikolajczyk hatte im Gespräch mit unserer Redaktion bestätigt: "Jetzt ist die Impfrate viel höher, sodass der Anteil der schweren Erkrankungen unter den Neuinfektionen viel geringer ist." Das führe dazu, dass bei einer hohen Inzidenz weniger Intensivbetten benötigt würden, als zu Beginn der Impfkampagne.

Überflüssig geworden ist der Wert aus Sicht des Experten damit aber bei Weitem nicht. "Die Bedeutung von Inzidenzen hat sich in jeder Welle der Pandemie verändert, aber ihr Verlauf ist weiterhin informativ", sagt Mikolajczyk im Gespräch mit unserer Redaktion. Inzidenz-Grenzen, die zuvor Einschränkungen auslösten, um Überlastungen in Krankenhäusern zu vermeiden, gelten beispielsweise nicht mehr.

Koppelung mit Hospitalisierung

"Durch den Rückgang des Immunschutzes nach etwa sechs Monaten kann es wieder eine erneute Koppelung von Inzidenz und Hospitalisierungen geben", erklärt der Mediziner. Eigentlich hatte es immer wieder geheißen, dieser Zusammenhang entkoppele sich irgendwann bei ausreichendem Impfschutz.

In Deutschland sind inzwischen 67,2 Prozent der deutschen Bevölkerung vollständig geimpft. Das Robert-Koch-Institut hält eine Durchimpfungsquote von mindestens 85 Prozent rechnerisch für notwendig, um in Anbetracht der hochinfektiösen Delta-Variante einen Herdenschutz zu erreichen – und geht bei der Rechnung bereits von einer hundertprozen wirksamen Impfung aus. "Das ist bei der Deltavariante nicht mehr der Fall. Deshalb muss noch ein höherer Prozentsatz der Bevölkerung geimpft werden", sagt Mikolajczyk.

Inzidenz gibt frühere Information

"In diesem Stadium der Pandemie gibt die Inzidenz eine frühere Information als zuvor über die mögliche Überlastung des Gesundheitssystems", sagt Mikolajczyk und erläutert: "Zu einer hohen Inzidenz tragen derzeit oft jüngere Kinder und Jugendliche bei, was sich nicht unbedingt in Krankenhausaufenthalte übersetzen wird. Aber wenn die Inzidenz in diesen Altersgruppen sehr stark steigt, wird sie in der Folge auch wieder in den anderen Altersgruppen steigen."

Auch wenn man die Inzidenzen nach Altersgruppen getrennt betrachte, bewegten sich diese in der Gesellschaft nicht vollkommen losgelöst voneinander. "Zu Beginn der Pandemie hat sich eine steigende Inzidenz schneller in Krankenhausaufenthalte übersetzt. Jetzt ist die Koppelung nicht mehr so direkt", meint Mikolajczyk. Die Inzidenz sei somit nun ein früherer Marker, dass die Hospitalisierungen im späteren Verlauf steigen werden. "Das gilt insbesondere für stark steigende Inzidenz in jüngeren Altersgruppen – dies ist weiterhin eine wichtige Warnung", meint der Experte.

Gesellschaft hat sich an den Begriff gewöhnt

"Man sollte sie deshalb weiterhin miteinbeziehen. Man könnte zwar auch erst reagieren, wenn die Krankenhausaufenthalte tatsächlich zunehmen, aber das birgt die Gefahr, dass man zu lange gewartet hat", warnt der Experte. Laut Intensivregister sind in Bayern, Thüringen, Bremen und Berlin derzeit weniger als zehn Prozent der Intensivbetten frei. Die Inzidenz gäbe deshalb weiterhin einen Hinweis, ob man Einschränkungen eher nicht lockern sollte, sondern steigern.

"Es spielt sicher auch eine Rolle, dass man sich in der Gesellschaft an den Begriff gewöhnt hat", ergänzt Mikolajczyk. Wissenschaftliche Begriffe wie "Inzidenz", "R-Wert" oder "Positivrate" seien für große Teile der Bevölkerung neu. "Zusammengenommen mit anderen Werten bleibt die Inzidenz aber weiterhin wichtig", betont Mikolajczyk.

Blick auf R-Wert interessant

Ein Vorteil sei beispielsweise, dass man sie auch auf sehr kleinen Ebenen – etwa den Landkreisen – betrachten könne. "Sehr wichtig ist auch der R-Wert, denn er gibt Aufschluss über die Änderungen der Inzidenz. Eine stabile Inzidenz ist anders zu erwarten, als eine schnell steigende", sagt er.

Den Blick auf die Todesfälle hält Mikolajczyk hingegen für weniger aussagekräftig, wenn es um die politischen Maßnahmen geht. "Wenn es darum geht, wie man sich verhalten sollte, ist das zu spät. Wenn Intensivstationen ausgelastet sind, sterben bereits Menschen, die unter normalen Umständen nicht sterben müssten", erinnert er.

Relevanz verändert sich

Generell gelte: "Um eine Epidemie zu kontrollieren, muss man immer auf mehrere Werte schauen und je nach Stadium nach Pandemie haben die Werte unterschiedliche Relevanz", sagt Mikolajczyk.

Er gibt ein Beispiel für eine weitere Kennzahl: "Wenn eine neue Variante aufkäme, würde sich unter Umständen die Wirksamkeit der Impfung verändern. Wenn der Anteil der Geimpften an den Hospitalisierten steigen würde, könnte das ein wichtiger Hinweis sein, dass sich etwas verändert hat", sagt er.

Verwendete Quellen:

  • Interview mit Prof. Dr. Rafael Mikolajczyk
  • Robert-Koch-Institut: 7-Tage-Inzidenzen nach Bundesländern und Kreisen
  • Impfdashboard: Impfquote Deutschland. Stand 09.11.2021
  • Intensivregister: Anteil der freien Betten an Gesamtzahl der Intensivbetten. Stand 09.11.2021

Über den Experten:

  • Prof. Dr. Rafael Mikolajczyk ist Mediziner und Epidemiologe. Seit 2016 ist er Professor für Epidemiologie und Biometrie und Direktor des Instituts für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik an der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
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