Deutschland schneidet beim Pisa-Test schlechter ab als in früheren Jahren. Insbesondere im Fach Mathematik sind die Verluste groß. Woran liegt das? Zwei Mathe-Influencer erklären, was guten Unterricht ausmacht und woran es im deutschen Schulsystem hapert.

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Es ist wieder passiert: Nach 2001 erlebt Deutschland erneut ein Pisa-Debakel – und diesmal haben die deutschen Schülerinnen und Schüler im internationalen Leistungsvergleich zum Teil so schlecht abgeschnitten, wie noch nie. Pisa-Forscherinnen und -Forscher bezeichnen die Entwicklung als "besorgniserregend".

"Absolut logisch" nennt Mathe-Youtuber Daniel Jung das Ergebnis, dessen Lernvideos zu Polynomdivision und Integralrechnung millionenfach angeklickt werden. "Dies sind die Folgen jahrzehntelanger vernachlässigter Innovation in Deutschland, insbesondere im Bildungsbereich", sagt Jung. Sein Online-Tutor-Kollege Nicolas Klupak, der als @mathemitnick Tausende auf Instagram und Tiktok für Mathe begeistert, zeigt sich vom desaströsen Ergebnis hingegen mehr überrascht. "Vor allem von der Tatsache, dass wir so stark abgerutscht sind."

Seit der letzten Pisa-Erhebung gingen die Leistungen in allen untersuchten Bereichen stark zurück, vor allem in Mathe und Lesen. Hier ist Deutschland nur noch Durchschnitt - das kratzt am Selbstverständnis der Dichter und Denker.

Dabei sei die Platzierung gar nicht das Problem, findet Klupak. "Wir leben in Europa und die Länder um uns herum bieten eben eine gute Schulbildung an." Dass Deutschland aber immer weiter abrutsche, sei ein Grund zur Besorgnis. Daniel Jung vergleicht die Situation mit einem Tsunami. "Noch liegen wir am Strand, aber das Wasser türmt sich schon am Horizont auf. Irgendwann macht es dann mal Wumms."

Gab es Einschnitte durch die Corona-Pandemie?

Aber warum hat Deutschland so schlecht abgeschnitten? Eine Ursache sehen die Autorinnen und Autoren der aktuellen Pisa-Studie unter anderem in der Corona-Pandemie.

Dem stimmen auch Jung und Klupak zu. "Man hat gemerkt, dass viele Schülerinnen und Schüler in dieser Zeit durch die Schulschließungen und das Homeschooling wirklich den Anschluss verloren haben", sagt Klupak, der auch die Online-Nachhilfeschule Akademus leitet. "Die Lücken sind größer als je zuvor."

Und Lücken seien vor allem im Fach Mathematik problematisch. In keinem anderen Fach baue Wissen so stark aufeinander auf. "Mathematik ist wie ein Kartenhaus", erklärt Klupak. "Je mehr Karten fehlen, desto instabiler wird das Kartenhaus – bis es in sich zusammenbricht." So sei es auch mit Wissenslücken in der Mathematik.

Klupak glaubt, dass andere Länder, wie zum Beispiel Estland, im Pisa-Vergleich heute vielleicht besser dastünden, weil sie in der Corona-Pandemie nicht wochenlang über Lernplattformen diskutiert hätten. "Ich übertreibe jetzt etwas, aber vielleicht haben die einfach gemacht, während wir in Deutschland alles verboten haben." Am Ende sei den Lehrkräften nichts anderes übriggeblieben, als E-Mails an die Schülerinnen und Schüler zu schicken.

Auch Jung sieht im deutschen Umgang mit Digitalisierung und Online-Tools ein Grundproblem. Während der Corona-Pandemie hätten viele Lehrkräfte bei ihm Rat gesucht, wie sie digitale Medien jetzt nutzen können. "Dabei ist mir aufgefallen, wie groß die Angst vieler Lehrkräfte ist", sagt Jung.

Viele befürchteten, dass sie gegen DSGVO-Richtlinien verstoßen und ihren Job verlieren, wenn sie eine Whatsapp-Gruppe eröffnen oder ein Video auf Instagram hochladen. Ob dieses Szenario realistisch sei, spiele dabei keine Rolle: Die Angst ist real. "Da muss von der Politik eine eindeutige Rückendeckung kommen", fordert Jung.

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Lehrermangel als zentrale Herausforderungen

In der mangelnden Unterstützung der Lehrkräfte sieht Mathe-Influencer Jung eine Hauptursache für das Pisa-Debakel. "Viele der 900.000 Lehrkräfte haben tolle Ideen", sagt der Mathe-Youtuber. Doch die Innovationskraft vieler Lehrkräfte scheitere an der Bürokratie. "Die beste Ausstattung hilft nicht, wenn die Lehrer nicht die Freiheit haben, mitgestalten zu dürfen."

Doch an allen drei Dingen mangelt es an Deutschlands Schulen: Lehrkräften, Gestaltungsfreiheit und digitaler Ausstattung. Corona schlug letztlich in eine Kerbe, die schon vor der Pandemie da war.

Bereits heute fehlen nach Angaben der Lehrergewerkschaft GEW mindestens 40.000 Lehrkräfte – und der Bedarf werde bis 2035 auf eine halbe Million ansteigen. Zu wenige Lehrer führen zwangsläufig zu größeren Klassen und Unterrichtsausfällen. Davon können Eltern schon lange ein Klagelied singen – und die Prognose für die Zukunft ist düster.
Auch dieses Problem könnte mit klug eingesetzter Digitalisierung zumindest abgemildert werden, glauben die Mathe-Influencer. Denn bei Digitalisierung gehe es nicht nur um einen schicken, modernen Unterricht.

"Kein Kind wird schlauer, nur weil es ein Tablet in der Hand hat", sagt Jung. Er sieht Digitalisierung auch als Schlüssel, um Prozesse zu verschlanken. Das würde Lehrkräften die Freiheit geben, ihren eigentlichen Job zu erledigen. "Jede Minute, die nicht darauf verschwendet wird, Dinge auszudrucken oder Verwaltungskram zu erledigen, kann ich in die Schüler investieren", sagt Jung.

Doch eine Umfrage des Deutschen Philologenverbands aus dem Jahr 2021 unter 7.000 Lehrerinnen und Lehrern zeigt, wie schlecht Deutschlands Schulen ausgerüstet sind. Knapp 50 Prozent der befragten Lehrkräfte gaben dabei unter anderem an, dass das WLAN an ihrer Schule nicht zuverlässig funktioniere. Der erhoffte Digitalisierungsschub durch Corona blieb bislang aus.

Was macht guten Unterricht aus?

"Guter Mathe-Unterricht kann an einer Kreidetafel stattfinden", findet auch Klupak. Entscheidend für guten Unterricht sei vor allem Interaktion mit den Schülerinnen und Schülern. Die Realität an vielen Schulen sei jedoch, dass der Mathe-Unterricht oftmals eine One-Person-Show sei, ein Frontalunterricht wie an der Uni.

Auch Tutorials auf Youtube oder Instagram sind letztlich Frontalunterricht. Den Erfolg der Lernvideos führt Klupak vor allem auf die ständige Verfügbarkeit und die konzentrierte Behandlung der Themen zurück. "In Tutorials vergessen wir das Ganze drumherum", sagt Klupak. "Wenn ich als Lehrer den Lehrplan durchkriegen muss, habe ich weder die Zeit, interaktiv mit den Schülern zu arbeiten, noch kann ich bestimmte Themen auf den Punkt bringen."

Das Problem mit der Sprachbarriere

Ein weiteres Problem sehen die beiden Online-Tutoren in Sprachbarrieren. Nach Angaben des Statistikamtes Nord sprechen 23 Prozent der Grundschüler in Hamburg kaum Deutsch. Ein Problem, das deutschlandweit auftritt. "Ich kenne eine Lehrerin, die hat in ihrer Klasse an einer Mittelschule Schülerinnen und Schüler aus zwölf verschiedenen Nationen, die zum Teil gar kein Deutsch sprechen", erzählt Klupak. Das sei kein Einzelfall. Unter diesen Bedingungen sei es aber schwierig, einen vernünftigen Unterricht für alle anzubieten.

Dabei gibt es längst Software-Programme, mit deren Hilfe sich barrierefrei kommunizieren lässt. Vor allem bei Reisenden werden die Apps immer beliebter, ermöglichen sie doch Kommunikation in nahezu jedem Urlaubsland. Und auch in der Wirtschaft kommen die Programme von Microsoft oder Google längst zum Einsatz.

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"Schulen dürfen diese Tools oftmals aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht nutzen", sagt Jung. Daran dürfe es aber nicht scheitern. "Lasst Lehrkräfte unter allen Sicherheitsmaßnahmen diese Tools nutzen, wenn sie gut funktionieren und dem Unterricht helfen", fordert Jung. "Das könnte uns echt helfen, voranzukommen."

Wie bewältigt Deutschland die Pisa-Misere?

Um ein weiteres Abrutschen Deutschlands im Bildungsvergleich zu stoppen, müssten spätestens jetzt die Weichen gestellt werden. "Mehr Lehrer, kleinere Klassen, Digitalisierung, weniger Unterrichtsausfälle. Aber das wird nicht von heute auf morgen gelingen", sagt Klupak.

"Wenn wir dieses Land als Wirtschaftsnation in der Zukunft retten wollen, dann müssen wir massiv und klug in Bildung investieren", findet auch Jung. "Wir müssen uns die Frage stellen: Wollen wir, dass unsere Kinder irgendwann bei Bezos und Musk in die Schule gehen - oder investieren wir jetzt kräftig in unser eigenes Schulsystem?"

Jung zweifelt daran, dass aus der Politik in absehbarer Zeit Handlungsentscheidung zu erwarten sind. "Das ganze System ist durch den Föderalismus so verzwickt, dass die einzige Chance bei den Lehrkräften liegt", glaubt er. "Mein Appell an alle willigen Lehrkräfte da draußen ist: Einfach machen." Es sei nie einfacher gewesen, digitale Inhalte zu erstellen. "Fangt einfach an."

Über die Gesprächspartner

  • Daniel Jung gehört mit seinem Kanal "Mathe by Daniel Jung" zu den erfolgreichsten Mathe-Youtubern Deutschlands. Nachdem er sein Mathe-Studium abgebrochen hat, hat er sich als Unternehmer im Bereich Bildung selbständig gemacht. Zudem hält er Vorträge zum Thema Bildung.
  • Nicolas Klupak hat nach seinem Mathematik-Studium 2009 das Nachhilfeinstitut Akademus gegründet. Unter dem Namen @MatheMitNick erklärt er seinen Followern auf Instagram und Tiktok in kurzen Tutorials, wie Mathe funktioniert.

Verwendete Quellen

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