Österreich hat ein wirksames Klimaticket. "Ein Meilenstein", sagt Mobilitätsexperte Andreas Knie. Das 49-Euro-Ticket in Deutschland funktioniert hingegen wie ein Sozialticket. Was muss Bundesverkehrsminister Wissing nach einem Jahr Deutschlandticket anders machen, um die Leute vom Auto in die Bahn zu locken?

Das am 1. Mai 2023 eingeführte Deutschlandticket kostet jährlich rund 600 Euro und außer IC und ICE gilt es in allen Bussen, Straßenbahnen, U-Bahnen und Zügen des Regionalverkehrs (RE, RB, S-Bahn). Österreich hat seit 2021 ein Klimaticket, das für rund 1.000 Euro pro Jahr auf allen Strecken von Bahn und Bus das Reisen ermöglicht.

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Welches Angebot bringt die Menschen effektiver von der Straße in die Bahn? Und warum? Ein Interview mit Andreas Knie, Leiter der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

Wie gut funktioniert das Klimaticket in Österreich?

Andreas Knie: Die Österreicher haben mit dem Klimaticket einen Meilenstein geschaffen. Also grob 1.000 Euro für alles. In Österreich haben sich die Bahn und die Verkehrsverbünde einfach zusammengekriegt. Das ist echt groß. Es gibt jetzt knapp 300.000 Klimaticket-Kunden – 100.000 kamen aus dem alten Abo-System. Das heißt: Das Klimaticket hat netto 200.000 mehr Kunden für das öffentliche Verkehrssystem hinzugewonnen. Ein richtig großer Erfolg.

Beeindruckend. Hat das Klimaticket es geschafft, das Mobilitätsverhalten in Österreich zu verändern?

Es entsteht der kleine, aber feine Effekt, dass mehr öffentlicher Verkehr (ÖV) als motorisierter Individualverkehr (MIV) genutzt wird. Den Österreichern ist es offensichtlich gelungen, mit einem sehr guten, attraktiven Angebot Menschen aus dem Auto in den öffentlichen Verkehr zu ziehen. Das gilt natürlich für die Ballungsräume. Für diesen Verlagerungseffekt gibt es gute Hinweise. Die genauen Zahlen und Effekte evaluieren gerade die Unternehmen infas und Motiontag.

Ist das Deutschlandticket ein Klimaticket?

Von den rund 11 Millionen Deutschlandtickets, die im Moment im Umlauf sind, sind 3 Prozent der Kunden wirklich neu ins System hineingesprungen. Das heißt: Für die Straße gibt es keinen Entlastungseffekt. Niemand kann im Moment da etwas messen. Etwa ein Viertel der Deutschlandticket-Kunden, die schon vorher ÖV gefahren sind, fährt jetzt noch etwas mehr ÖV. Die Leute sind glücklich, aber mit dem Deutschlandticket konnten keine Autofahrenden in nennenswerten Größen für das Ticket begeistert werden. Das hat nicht funktioniert.

Dieses Viertel, das mehr ÖV nutzt, verursacht keine Verlagerung auf den ÖV?

Das sind in aller Regel Menschen, die gar kein Auto haben und nur gelegentlich mit dem Auto unterwegs sind. Sie fahren jetzt einfach noch mehr ÖV: Anstatt dass sie dreimal im Bus gefahren sind, fahren sie jetzt sechsmal im Bus. Das Deutschlandticket ist was für Leute, die vorher schon ein Abo hatten, die immer schon Busse und Bahnen gefahren sind. Es gibt nur ganz wenige Leute, die auch parallel noch ein Auto haben. Das sind in erster Linie Pendler.

Was sich ändern müsste, damit das Deutschlandticket mehr Menschen anspricht

Ist das Deutschlandticket also ein Sozialticket und kein Klimaticket?

Richtig, das Deutschlandticket ist im Moment kein Klimaticket, sondern ein Sozialticket. Es erlaubt Fahren für 49 Euro quer durch die Republik. Das gab es noch nie! Wir wollen ja auch, dass die Leute glücklich sind und gerne ÖV fahren. Wir wollen keine abgehängten Regionen haben. Und insofern haben wir jetzt eine höhere Mobilität von Menschen mit niedrigerem Einkommen. Verkehr ist ja nicht nur ein Klimaproblem, sondern Verkehr ist auch Teilhabe an der gesellschaftlichen Entwicklung. Insofern ist auch ein sozialer Effekt ein erwünschter Effekt.

Die Wohlhabenden werden also vom Deutschlandticket nicht angesprochen, warum?

Sie waren beim 9-Euro-Ticket dabei. Plötzlich haben Leute ein Ticket gekauft, die sehr viel Geld haben. Das 9-Euro-Ticket wurde vor allem von sehr gut Verdienenden gekauft. Obwohl sie dann auch selten gefahren sind.

"29 Euro wäre genau der richtige Preis."

Andreas Knie, WZB

Wie kann man jetzt das Sozialticket zum Klimaticket machen? 9 Euro ist ein Kampfpreis, der sich ja dauerhaft nicht finanzieren lässt.

Ein 9-Euro-Ticket wäre in der Tat nicht finanzierbar. Wir haben das ja sehr genau untersucht. Welcher Preis würde Leute, die jetzt im Auto sitzen, und die das Bahnfahren für zu kompliziert und zu schwierig finden, in die Bahn locken? Das Ergebnis: 29 Euro wäre genau der richtige Preis.

Die 29 Euro, da legen wir großen Wert darauf, müssen aber auch die erste und letzte Meile beinhalten. Ich muss ja zum Zug oder zum Bus kommen, das heißt, ich muss so eine Art On-Demand-Taxi inkludiert haben, das mich von jeder Haltestelle dahin bringt, wohin ich wirklich will.

Für was wäre dieses 29-Euro-Ticket gültig?

Für alles. Wenn man jetzt aus dem Deutschlandticket ein richtiges Klimaticket machen will, wenn man die Leute aus dem Auto rausholen, wenn man unter dem Strich weniger CO2-Emissionen haben will, dann muss man ein 29-Euro-Deutschland-Ticket mit allem, was wir haben, aufsetzen: Fernverkehr, Nahverkehr und die letzte Meile.

Wäre das 29-Euro-Ticket finanzierbar?

Wir rechnen mit bis zu 12 Mrd. Euro zusätzlichen Kosten. Diese wären dadurch zu finanzieren, dass die Dieselsubventionierung, das Dienstwagenprivileg sowie die Entfernungspauschale gestrichen wird.

Die Österreicher zahlen umgerechnet rund 90 Euro im Monat und haben alles bis auf die letzte Meile. Daher liegt die Frage nahe: Was wiegt hier schwerer: das Preis-Argument oder das Verfügbarkeits-Argument? Ist es nicht so, dass die Leute die Bahn für zu unzuverlässig halten und daher lieber ins Auto steigen, um den Termin zu schaffen? Die Österreichische Bundesbahn hat ja kein Pünktlichkeitsproblem.

Das haben wir auch genau untersucht. Für diese Umsteigemotive gibt es einen gewissen Vorbehalt. Schafft die Bahn das? Und hier kommen die Argumente in dieser Reihenfolge. Erstens: Preis. Oh, günstig! Zweitens natürlich Einfachheit: Ein Preis für alles. Das hat alle sehr überzeugt. Drittens: Es muss auch alles verlässlich funktionieren.

Das sind die drei Kriterien, nach denen sie Entscheidungen getroffen werden. Wenn das passt, hätten wir mutmaßlich bis zu 10 Millionen Menschen mehr für die Bahn gewonnen.

Welche Preise haben Sie ausgetestet?

Unsere Untersuchung startete als das 9-Euro-Ticket noch gültig war und eine Nachfolgeregelung schon in der Debatte war. Die Antworten haben sich dann im Spektrum zwischen 29 und maximal 35 Euro verdichtet. Daher haben wir schon damals gesagt, dass ein 49-Euro-Ticket nicht funktionieren wird: Es ist den Leuten zu teuer.

Um Menschen vom Auto zur Bahn zu bringen, müssen wir einen echten Kracher bringen. Sonst holen wir die Leute nicht aus ihrer stabilen Routine heraus.

"29 Euro ist die Einstiegsdroge."

Andreas Knie,WZB


Sie haben also das Thema der Pünktlichkeit in den Preis von 29 Euro einkalkuliert?

Genau. Die skeptische Haltung der Menschen wird durch den Preis konterkariert: Na, wenn das nur 29 Euro kostet, dann kaufe ich das. Später, wenn auch bei uns die Bahn die Qualität der ÖBB oder sogar der Schweizerischen Bundesbahn SBB hätte, dann kann man auch den Preis wieder anheben. Das ist ja wie Drogenhandel: Wenn man die Leute im System hat und dieses auch funktioniert, dann kann man langsam den Preis anheben. Das ist allen klar. 29 Euro ist die Einstiegsdroge.

Preisen die 29 Euro das Schmerzensgeld für die Verspätungen ein?

Das tun sie. Wenn beim 9 Euro Ticket die Bahn nicht gekommen ist, dann kann man da hinwegsehen. Das würden die Leute auch für 29 Euro machen. Daher ist das im Moment in Deutschland der passende Einstiegspreis fürs Bahnfahren.

Erhoffter Erfolg beim Deutschlandticket ist ausgeblieben

Wann wird das Deutschlandticket evaluiert?

Das Ministerium hat die Evaluierung gerade ausgeschrieben, man hat sich dabei nicht gerade beeilt. Und das Ergebnis ist eigentlich auch schon klar: Dieses 49-Euro-Ticket hat keinen Menschen von einem Auto auf die Bahn gebracht. Das ist völlig eindeutig, das wissen auch alle.

"Dieses 49-Euro-Ticket hat keinen Menschen von einem Auto auf die Bahn gebracht."

Andreas Knie, WZB


Der Passagierreisendenverkehr ist ja mit Corona stark eingebrochen und erholt sich langsam. Wie sieht es damit inzwischen aus?

Im Nahverkehr ist er bereits auf dem Stand von vor Corona. Im Fernverkehr, also Bahn und Flugzeug, nach wie vor nicht. Hier liegen wir in Deutschland zwischen 70 und 80 Prozent des Niveaus von vor Corona.

Viele machen Homeoffice, viele machen Zoom-Calls.

Das ist das neue Normal. Dazu kann ich Ihnen auch eine Zahl sagen: 25 Prozent der in Deutschland sozialversicherungsbeschäftigten Arbeitnehmer:innen machen das jetzt an 2,5 Tagen. Die Folge: Es wird weniger gefahren in Deutschland.

Wer fast jeden Tag in der ersten Klasse der Bahn sitzt, dem fällt auf, dass die Leute, die sonst immer wie permanent auf ihren Laptops rumgehauen haben, fehlen. Die machen das jetzt von zu Hause aus oder die machen das wie ich nicht mehr jeden Tag, sondern nur noch zwei- oder dreimal in der Woche. Deshalb haben wir da ein strukturelles Problem auch für die Bahn. Es könnte also bei den 70 bis 80 Prozent des alten Verkehrsvolumens im Fernverkehr der Deutschen Bahn noch länger bleiben.

Und der Autoverkehr?

Im Autoverkehr versteckt sich das eigentliche Umweltproblem in Deutschland. Die Emissionen gehen nicht runter. Jetzt erleben wir aber den gleichen Effekt wie bei der Bahn. Die Fahrleistungen gehen auch hier runter, wir rechnen zurzeit mit 5 Prozent weniger Verkehr wie vor Corona. Das ist nicht so viel, wie man es bräuchte, um die Klimaziele im Sektor Verkehr zu erreichen, aber ein Anfang.

Wie geht es weiter mit dem Deutschlandticket? Verkehrsminister beraten

In Münster kommen die Verkehrsminister zusammen – aber ohne den Bundesminister. Zwischen Bund und Ländern gibt es derzeit in der Verkehrspolitik einige Konfliktpunkte.

Warum ist der Rückgang bei der Bahn nicht in ähnlicher Größenordnung auch im Straßenverkehr zu sehen: Wählen die Leute also noch häufiger das Auto als die Bahn?

Wenn man sich jetzt den Modalsplit anschaut, ist der Anteil des Autos auch während und auch nach der Pandemie sehr stabil geblieben. Heißt: Wir haben höhere Verluste beim öffentlichen Verkehr ÖV. Alles zusammengerechnet sind wir bei minus 15 Prozent gegenüber der Zeit vor Corona.

Liegt das daran, dass das Bahnfahren so schlecht geworden ist?

Das ist auch ein Grund. Wer fährt denn jetzt noch ÖV? Das sind in der Tat die niedrigeren Einkommensschichten. In ländlichen Gebieten sind es kaum noch Menschen. Was noch funktioniert sind Ballungsräume und die dortigen Pendlerströme.

Hat die Bahn die Mittel- und Oberschicht verloren?

Ja. Hier gibt es deutlich höhere Verluste als in den unteren Einkommensschichten. Und das sind ja aber ausgerechnet diejenigen, für die der Preis eigentlich nicht so die große Rolle spielt, sondern der Komfort, die Verfügbarkeit, die Pünktlichkeit.

Und da sind wir wieder bei unserem anderen Punkt. Das 9-Euro-Ticket war ein gigantisches Emotionalisierungsprojekt. Und diesen Effekt brauchen wir jetzt wieder. Der geht nicht mit 9 Euro, aber mit 29 Euro. Da bekommen wir auch wieder die Leute rein, die eigentlich viel Geld haben und sagen, ja okay, für den Preis mache ich es.

Liegt das Problem bei der Deutschen Bahn selbst?

Die Bahn saniert jetzt fleißig – gibt das Anlass zur Hoffnung?

Nein, denn was jetzt gemacht wird ist eine Kahlschlagsanierung. Wichtige Strecken werden für mehrere Monate einfach dicht gemacht. Autobahnen werden doch auch nicht über Monate völlig dicht gemacht, sondern man versucht die Sanierung im laufenden Betrieb. Die Bahnsanierung können sich nur Leute ausgedacht haben, die nie Bahn gefahren sind.

Welche Wirkung hat das auf die Leute, wenn Strecken dicht gemacht werden?

Die wenigen, die wir noch im Fernverkehr haben, werden sich anders umorientieren und die meisten kommen nicht wieder zurück. Dann haben wir eine sanierte Bahn und die fährt dann ohne Passagiere, weil die Leute längst eine Alternative gesucht haben. Aber vielleicht besinnt man sich ja noch des besseren.

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