Die deutschen Handballer haben bei der Heim-EM nach einem Sieg gegen Ungarn vor dem letzten Hauptrunden-Spiel das Halbfinale vor Augen. Das DHB-Team zeigte sich in vielen Bereichen verbessert, wirkte endlich entschlossen und bereit. Was auch an einem speziellen Kniff von Bundestrainer Alfred Gislason lag.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Alfred Gislason wählte etwas Besonderes. Dem Anlass entsprechend. Denn sportlich mit dem Rücken zur Wand stehend, musste sich der Handball-Bundestrainer etwas einfallen lassen. Und der Isländer lieferte. Gislason zeigte in einer Ansprache Stunden vor dem so wichtigen Hauptrundenspiel gegen Ungarn noch einmal eine ganz spezielle Seite.

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Spielmacher Juri Knorr machte keinen Hehl daraus, dass Gislason damit etwas ausgelöst hatte. "Das hat uns noch einmal zusammenrücken lassen", sagte Knorr, der betonte, Gislason habe eine andere Art der Ansprache genutzt. "Es war emotional, hat jeden von uns ergriffen und uns daran erinnert, wofür wir das eigentlich machen, warum wir Handball spielen, warum wir hier auflaufen dürfen. Und natürlich haben wir auch für ihn gespielt. Jeder hat für sich, aber auch für den anderen gespielt. Und das haben wir als Team gezeigt", sagte Knorr.

Groß ins Detail gehen wollte der 23-Jährige nicht, das bleibt im Kreis der Mannschaft. Das musste er aber auch gar nicht. Man merkt auch so, dass es passt zwischen Bundestrainer und Mannschaft. "Wir schätzen ihn als sehr direkten Kommunikator. Er ist keiner, der extrem viel spricht. Aber wenn er spricht, dann ist es doch klar und auch sehr direkt", so Knorr. Mit Erfolg in diesem Fall: Denn nach dem 35:28 gegen Ungarn ist das Halbfinale bei der Heim-EM in greifbare Nähe gerückt.

Kommunikation im Vordergrund

Die Kommunikation stand nach dem grausamen Österreich-Spiel und vor der so wichtigen Ungarn-Partie im Vordergrund. Es gab in der kurzen Zeit zwischen den beiden Spielen nur individuelles Training im Kraftraum, stattdessen ein vergleichsweise exzessives Videostudium. "Der Kopf rauchte", sagte Kapitän Johannes Golla. "Aber das hat Früchte getragen." Drei, vier Sitzungen waren es, verriet der Bundestrainer, hinzu kam seine emotionale Ansprache, bei der er sich auch einzelne Spieler herauspickte.

Es waren ganz offensichtlich essenzielle Punkte, die das Trainerteam anpackte, es war die richtige Tonalität, die passende Vorbereitung, es waren die nötigen Handgriffe, um den Knoten bei der deutschen Mannschaft rechtzeitig zu lösen. Hatte sie sich in der Hauptrunde gegen Island und Österreich vor allem durch die Spiele gekämpft und dabei zumindest viel Moral bewiesen, trotzte sie gegen Ungarn dem immensen Druck auf imposante Art und Weise. Das Team ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und trieb sich mit viel Emotionalität und Aggressivität selbst an, eroberte das Spiel auch durch Körperlichkeit.

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Aggressivität, Willen und Leichtigkeit

Dadurch erweckte das Team erstmals in der Hauptrunde den Eindruck, dass man auch vom Kopf her endlich restlos im Turnier ist und die Aufgabe endgültig angenommen hat. Was dann für eine deutlichere Leichtigkeit beim Spielerischen sorgte. Und für eine Symbiose mit dem fanatischen Kölner Publikum, die über die kompletten 60 Minuten spürbar war. Wirkte die Wucht der Arena zuvor streckenweise auch als Bürde, war sie nun durchweg der erhoffte Antrieb, um sich aus dem Loch zu befreien.

"Das war eine phänomenale Abwehr, das war überragend von den Jungs", lobte Gislason im ZDF-Interview. "Wir haben auch sehr gut nach vorne rausgespielt und waren herausragend im Angriff. Deshalb kann ich diesmal ganz zufrieden sein", sagte der 64-Jährige nach dem Spiel. Die Erleichterung war ihm dabei deutlich anzusehen. War die Abwehr bislang nie das Problem, lief es jetzt endlich auch offensiv über weite Strecken flüssig, mit viel Bewegung, Schnelligkeit, Variabilität und deutlich mehr Effizienz vor dem Tor. Deshalb fiel es auch kaum ins Gewicht, dass Torhüter Andreas Wolff diesmal lange kaum ein Faktor war und erst spät aufdrehte.

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DHB-Team widerlegt die Kritiker

"Wir haben heute ein Spiel gezeigt, das uns die Wenigsten zugetraut haben", meinte Knorr. "Denn alle haben gedacht: 'Okay, die Deutschen haben ihre individuellen Stärken. Sie können rennen, sie können kämpfen, aber irgendwann werden sie ihren Kopf verlieren.' Und so war es diesmal nicht. Wir haben gezeigt, dass wir Handball auch denken können. Es macht mich stolz, dass wir dafür auch bereit sind." Er selbst fand erst in der zweiten Halbzeit Zugriff auf das Spiel, dafür sprangen andere in die Bresche. Julian Köster zum Beispiel, der defensiv überragend spielte und vorne acht Tore bei neun Versuchen erzielte.

"Es gibt kaum einen Spieler, der besser ist - in seinem Alter sowieso, aber auch insgesamt ist er einer der weltbesten Abwehrspieler auf seiner Position", schwärmte Gislason. "Und der Angriff kommt immer besser dazu." Und der 23 Jahre alte Lokalmatador Köster – er wohnt zehn Minuten von der Arena entfernt – gab zu, dass es "ein Highlight" gewesen sei, "das ich persönlich so schnell nicht vergessen werde. Es war vorher viel Druck auf dem Kessel, aber ich glaube, wir haben eine tolle Antwort gegeben."

Matchball gegen Kroatien

Nun muss diese Antwort nur noch mit dem Halbfinal-Einzug veredelt werden. Am Mittwoch braucht das DHB-Team dafür einen Sieg gegen Kroatien, dann ist die Finalrunde und ein Duell mit Dänemark sicher. Unter Umständen würde auch ein Remis reichen.

Wenn es richtig gut läuft und die Konkurrenz mitmacht, könnte der Einzug ins Halbfinale bei Siegen von Island gegen Österreich und Frankreich gegen Ungarn sogar bereits vor dem Spiel gegen Kroatien feststehen. "Das wird ein sehr gefährliches Spiel", warnte Gislason. "Für uns geht es um alles. Die Kroaten können es nicht mehr ins Halbfinale schaffen, aber sie haben wie wir eine relativ junge Mannschaft mit drei, vier sehr abgezockten älteren Spielern, die alle Weltklasse sind. Wie ich sie kenne, werden sie durchziehen."

Knorr weiß, dass Kroatien "eine sehr stolze Mannschaft ist. Es wird wieder extrem viel Feuer drin sein, uns wird nichts geschenkt", betonte er. "Wir müssen wieder unsere Tugenden, unser Handwerkszeug zusammenpacken, so wie wir es gegen Ungarn geschafft haben." Zuversichtlich mache ihn die "individuelle Qualität, aber auch die Qualität als Mannschaft. Und natürlich haben wir auch 20.000 Zuschauer hinter uns". Und zudem einen Bundestrainer, der die richtigen Worte findet.

Verwendete Quellen

  • Übertragung des Spiels im ZDF
  • Mixed Zone Lanxess Arena
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