Die deutschen Handballer lassen im zweiten EM-Hauptrundenspiel gegen Österreich einen Punkt liegen. Den Halbfinal-Einzug hat das Team von Bundestrainer Alfred Gislason vor den verbleibenden beiden Spielen nicht mehr in der eigenen Hand. Vor allem die Offensive bereitet Sorgen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Juri Knorr musste dringend etwas loswerden. Man merkte dem 23-Jährigen an, dass ihn das Thema wurmte und beschäftigte. Denn als er auf die harsche Kritik der deutschen Handball-Legenden angesprochen wurde, sprudelte es in der Interviewzone nur so aus ihm heraus.

Mehr News zum Thema Sport

Juri Knorr
Juri Knorr während des EM- Spiels gegen Österreich in Köln. © imago/Steinbrenner

"Ich bin absolut kritikfähig", betonte er nach dem hart erkämpften 22:22 der deutschen Handballer im zweiten EM-Hauptrundenspiel gegen Österreich. Er wusste dabei natürlich, dass es nach dem Remis gegen das Überraschungsteam des Turniers wieder jede Menge Kritik geben wird, denn die DHB-Auswahl blieb gegen den Nachbarn eine Menge schuldig.

Knorr weiß aber auch, dass es der Job der Ex-Nationalspieler Stefan Kretzschmar, Pascal Hens und Michael "Mimi" Kraus ist, den Finger in die Wunde zu legen. "Aber wenn wir alle das Ziel haben, das Halbfinale zu erreichen, dann denke ich, dass wir alle zusammenstehen und positiv miteinander umgehen müssen", meinte Knorr. "Das Turnier läuft noch, und wir haben noch Chancen auf das Halbfinale und ich finde, wir sollten zusammenstehen und kämpfen bis zum Schluss. Danach kann man immer noch Kritik üben."

"Sehr grausame" Offensive im Fokus

Die teilweise sehr harsche Kritik der Handball-Granden im Dyn-Talk "Harzblut"("Selbstmordkommando", "Harakiri", "Stand-Handball") hatte für Wirbel gesorgt und medial zu einem recht ungünstigen Zeitpunkt vor dem Österreich-Spiel die große Runde gemacht. Dass Knorr zuletzt von einer Erkältung geschwächt wurde, relativiert die Vorwürfe zumindest ein Stück weit. "Ich glaube, man sollte immer das große Ganze sehen, bevor man mit dem Finger auf den anderen zeigt", so Knorr.

Allerdings schafften es Knorr und Co. am Samstagabend im Kölner Hexenkessel Lanxess Arena nicht, die Kritik abzuschütteln. Im Gegenteil. Bei dem hart umkämpften Remis stand vor allem die Offensive um den hochveranlagten Spielmacher im Fokus. Denn die Chancenverwertung fand selbst Bundestrainer Alfred Gislason "sehr grausam". 23 Fehlwürfe leistete sich das deutsche Team, dazu elf technische Fehler. Horror-Zahlen, die in so einem Spiel nicht nur einen großen Unterschied machen, sondern normalerweise entscheidend sind.

Immerhin: Die Abwehr stand, die Defensive rund um den mal wieder bärenstarken Torhüter Andreas Wolff lieferte eine überzeugende Vorstellung ab und hielt das Team im Spiel. Offensiv hingegen gab es zu oft Stand-Handball, zu wenig Kreativität und Effizienz. Die Österreicher standen sehr hoch, weshalb die Deutschen früh ins 1-gegen-1 mussten. Da die Aktionen zu zögerlich waren, ohne Risiko und Mut, kam kein Fluss ins deutsche Spiel. Die Gastgeber konnten sich deshalb nie das so wichtige Momentum erarbeiten.

Eingegraben und festgefahren

Kombiniert mit fehlender Konzentration vor dem Tor gegen einen extrem gut aufgelegten österreichischen Keeper Constantin Möstl ergab das alles einen gefährlichen Mix, der dazu führte, dass das DHB-Team zwölf Minuten vor Schluss gar einem Fünf-Tore-Rückstand hinterherlief. "Die Mannschaft hat sich selbst immer wieder eingegraben und festgefahren", sagte Gislason.

Eine Kraftfrage wollte Gislason übrigens nicht zulassen, auch wenn es so aussieht, dass sich der Akku bei dem ein oder anderen bereits kräftig entladen hat. "Wir können über müde hier oder müde da reden, aber das zählt überhaupt nicht", sagte Gislason und verwies auf die Leistungsträger des Gegners, Lukas Hutecek und Mykola Bilyk, die durchgehend auf der Platte stehen. "Müde sind die nicht", sagte Gislason: "Also ist das auch ein bisschen Einstellungssache."

Lesen Sie auch:

"Wir machen das schlechteste Spiel"

Die Spieler waren durchaus selbstkritisch. "Ich glaube, man hat in jedem Gesicht gesehen, dass uns das unglaublich weh tut", sagte Kapitän Johannes Golla in der ARD: "Das war unglaublich schlecht von uns und bringt uns womöglich um unsere Ziele. Wir machen das schlechteste Spiel, was Angriffseffektivität angeht. So werden wir nichts erreichen bei dem Turnier, aber wir haben die Fans im Rücken." Er versammelte die Mannschaft unmittelbar nach der Partie auf dem Parkett, Arm in Arm schwor man sich auf die letzten beiden Aufgaben der Hauptrunde gegen Ungarn am Montag und am Mittwoch gegen Kroatien ein.

Deshalb ging es in der unmittelbaren Nachbetrachtung auch um die positiven Dinge. "Wenn man die letzten zehn Minuten sieht, war das ein gewonnener Punkt", sagte Knorr. "Wenn man das ganze Spiel sieht, ist es ein verlorener Punkt, weil wir eigentlich ein gutes Spiel machen. Wir sind an uns selbst gescheitert, aber nicht an unseren handballerischen Fähigkeiten." Er fand den Punkt "okay", und auch Gislason merkte an, dass der Zähler noch wichtig werden könne.

Nicht mehr in der eigenen Hand

Mit 3:3 Punkten haben die deutschen Handballer den anvisierten Einzug in das Halbfinale aber nicht mehr in der eigenen Hand. Gegen Ungarn (4:2 Punkte) und Kroatien (1:5) sind Siege Pflicht. Gleichzeitig müssen die Österreicher (4:2) gegen Frankreich (6:0) und Island (1:5) noch Punkte liegen lassen. Dabei sorgen in erster Linie die irre Aufholjagd und die bedingungslose Unterstützung des Publikums in Köln für Mut.

Fakt ist trotzdem: Man steht sportlich mit dem Rücken zur Wand. "Wir brauchen nichts weiter rechnen, wir müssen das Spiel gegen Ungarn gewinnen. Und wenn wir das machen wollen, müssen wir sehr gut spielen, das ist ohne Frage", sagte Gislason: "Wer ins Halbfinale kommt, der wird das verdient haben. Und wenn wir das nicht verdient haben, werden wir nicht da sein", stellte der 64-Jährige klar. Denn wenn man weiter so im Angriff spiele und so mit den Chancen umgehe, dann werde man nicht gewinnen gegen Ungarn und auch nicht gegen Kroatien: "So einfach ist das", so der Isländer.

Knorr beschwor daher nochmals den Zusammenhalt, eine Positivität, auch durch die Medien. Sein "Ich weiß nicht, was ihr wollt" erinnerte ein wenig an das legendäre Eistonnen-Interview von Per Mertesacker bei der Fußball-WM 2014. "Ich glaube, ihr wollt, dass wir erfolgreich sind, oder? Dass wir wieder ein Wintermärchen für die Leute schaffen, einfach schöne Momente für jeden schaffen, der da draußen ist", sagte Knorr: "Wenn wir alle das gleiche Ziel haben, dann sollten wir auch so lange dafür arbeiten, solange es möglich ist." Er weiß allerdings auch: Viel wird dabei von ihm abhängen.

Verwendete Quellen:

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.