Spanien schlägt England im Finale der WM 2023 und krönt sich zum Weltmeister. Obwohl sie das stärkste Team im Turnier sind, ist ihr Titelgewinn aufgrund der vielen Risse innerhalb des Teams paradox.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Justin Kraft sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Mit Tränen in den Augen stand Jennifer Hermoso vor den Kameras und versuchte, passende Worte für das zu finden, was in ihr gerade vorging. "Wir haben so viele Tage versucht, uns vorzustellen, wie es ist, Weltmeister zu sein. Wir konnten es nicht", erklärte sie mit brüchiger Stimme. Jetzt wird es vermutlich mehrere Tage benötigen, um zu realisieren, dass es geklappt hat.

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Hermosos Interview hätte auch ein anderes sein können. In der 70. Minute vergab sie die große Chance auf 2:0 zu erhöhen und scheiterte vom Punkt an der englischen Torhüterin Mary Earps. Ungefähr fünf Minuten lang geriet Spanien in der Folge etwas ins Schwimmen. England bekam Aufwind, war drauf und dran, vielleicht doch noch zum Ausgleich zu kommen. Dann wäre Hermoso womöglich die tragische Heldin des Turniers gewesen.

Wie viele ihrer Mitspielerinnen wuchs die flexibel einsetzbare Offensivspielerin über sich hinaus. Sportlich, aber auch und gerade mental. Spanien ist kein Weltmeister, den man mit Blick auf die letzten Monate als folgerichtig bezeichnen könnte. Dafür waren die Risse innerhalb des Teams zu tief.

Spanien: Weltmeister mit tiefen Rissen

15 Spielerinnen gingen im September 2022 in den Streik. Der Grund: Sie wollten nicht mehr mit Trainer Jorge Vilda zusammenarbeiten. Es gab Vorwürfe, der 42-Jährige habe Grenzen überschritten, um seine Spielerinnen kontrollieren zu können. Offene Türen im Hotel, Gepäckdurchsuchungen – es habe einige im Team sogar psychisch belastet, wie Vilda mit ihnen umgegangen sein soll.

Auch fachlich hagelte es Kritik. Bei den bisherigen großen Turnieren blieb Spanien trotz großer individueller Qualität erfolglos. Zu lasches Training, zu wenig taktische Tiefe – so die interne Kritik. Wer die Spanierinnen bei dieser WM hat erstmals spielen sehen, dürfte nichts davon geahnt haben.

Von einem Burgfrieden war vor Turnierstart die Rede. Doch die Risse begleiteten die Spanierinnen auch während des Turniers. Nach der 0:4-Niederlage gegen Japan in der Gruppenphase, als niemand mehr an ein erfolgreiches Turnier glaubte, rafften sich die Spielerinnen abermals zusammen. Es war bemerkenswert, wie trotz all der bekannten Geschichten kein negatives Wort an die Öffentlichkeit gelangte.

WM 2023: Spanien entwickelte einen beeindruckenden Teamgeist

Spanien entwickelte einen unter diesen Umständen beeindruckenden Teamgeist. Einige Spuren sind dennoch erkennbar. Wie die SZ berichtet, gehen sich die beiden Superstars Alexia Putellas und Aitana Bonmati aus dem Weg, reden kein Wort miteinander. Putellas soll eine entscheidende Rolle bei der Annäherung der beiden Seiten gespielt haben.

Die Weltfußballerin unterstützte den Protest zwar, gehörte aber nicht zur Gruppe der Streikenden. Sie stand nach einer schweren Kreuzbandverletzung im Halbfinale erstmals in der spanischen Startelf, zeigte aber eine eher dürftige Leistung. Im Finale mischte sie erst in der Schlussphase mit.

Ausgerechnet Bonmati und Putellas, die beide im Normalfall als Hirn und Herz des Teams agieren, scheinen also zerstritten zu sein. Dazu die Konsequenz von Mapi Leon und Patri Guijarro – zwei weitere Schlüsselspielerinnen, die allerdings nicht von ihrem Streik zurückkehrten. Zwölf der in Spanien als "Las 15" getauften Spielerinnen machten es anders, mit Bonmati, Mariona Caldentey und Ona Batlle wurden drei von ihnen in den WM-Kader berufen.

WM 2023: Spanien lässt England keine Chance

Einen derart tiefen Konflikt für etwas mehr als einen Monat so zu verstecken, ist eine Willensleistung. Mental müssen viele Spielerinnen an ihre Grenzen gekommen sein. Gerade in der K.-o.-Phase zeigte Spanien dennoch die konstantesten und besten Leistungen aller Teams. Mit einem Höhepunkt im Finale.

Souverän und geduldig spielten die Spanierinnen ihren Gegner über viele Phasen fast schon her. "Es war schwer, an den Ball zu kommen", gab Englands Millie Bright hinterher zu. Bezeichnend dafür eine Szene in der 13. Minute, als die Engländerinnen versucht hatten, Spanien mit hohem Pressing unter Druck zu setzen. Tatsächlich gelang es ihnen zunächst, sie auf dem Flügel zu isolieren.

Gegen jeden anderen Gegner hätten die Three Lionesses hier vermutlich einen hohen Ballgewinn verbucht. Doch Spanien kombinierte sich durch kluges Pass- und Positionsspiel innerhalb weniger Sekunden nach vorn, erspielte sich eine eigene gute Gelegenheit. Es wäre vielleicht das schönste Tor dieses Turniers gewesen, hätte der letzte Pass gesessen. Doch von diesem Moment an, so schien es, hatte Spanien trotzdem alles im Griff.

Spanien jetzt auch physisch stark

Auch körperlich hielt das Team von Vilda dagegen, ließ sich wie schon in den Partien zuvor nichts gefallen. Vielleicht ist das die größte Weiterentwicklung eines hochtalentierten Nationalteams, das in der Vergangenheit häufig an sich selbst scheiterte.

Konträr zu den Geschichten, die sich zuvor ereignet hatten, war jede Spielerin bereit, für das Team jeden Meter zu gehen. Anders als beispielsweise Lucy Bronze, die im zentralen Mittelfeld unnötig ins Dribbling ging, den Ball verlor und schließlich trabend beobachtete, wie Spanien sehenswert das 1:0 herausspielte.

Eine Verlagerung auf die Seite, die Bronze normalerweise verteidigt und dann mit Tempo in die Tiefe. Es sollte das entscheidende Tor sein. Jenes Tor, dass Spanien erstmals zum Fußball-Weltmeister der Frauen machen sollte.

WM 2023: England fehlen die Ideen, Spanien blickt in ungewisse Zukunft

Auch weil England die Durchschlagskraft und die Ideen fehlten. Ein Lattentreffer in der Anfangsphase, eine kurze eher unkoordiniert wirkende Druckphase nach dem verschossenen Elfmeter von Hermoso. Viel mehr kam von den Engländerinnen nicht.

Zu dominant war das spanische Ballbesitzspiel, zu leidenschaftlich ihre Arbeit gegen den Ball. In der Rückwärtsbewegung hatten sie ihre Organisation so schnell gefunden, dass England aus den meisten Ballgewinnen nichts machen konnte.

Es war eine wahrlich weltmeisterliche Leistung der Spanierinnen, die allen Umständen zum Trotz wie eine Einheit auftraten – quasi eine zerstrittene Einheit. Sie gehen nicht nur als die ersten spanischen Weltmeisterinnen in die Fußballgeschichte ein, sondern auch als eine der paradoxesten Weltmeisterinnen überhaupt.

Die kommenden Wochen werden dennoch interessant. Wenn erstmal alle realisiert haben, was in den vergangenen Tagen und Monaten alles passiert ist, könnte der Burgfrieden wieder gekippt werden. Eine große Frage wird dann sein, ob der Triumph eher die Position des Trainers oder jene der Spielerinnen gestärkt hat.

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