Wird in den anteilig gefüllten Fußballstadien mehr gepöbelt als vor der Corona-Pandemie oder sind die Beschimpfungen nur besser zu verstehen? Fanforscher Prof. Harald Lange kennt die Antwort und erklärt, warum friedliche Familienväter manchmal zu den größten Pöblern werden.

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Geschimpfe und Gepöbel gehört zum Fußball wie ein Ball und Stollenschuhe. Doch aktuell ist vieles anders. In Zeiten von Corona dürfen maximal 20 Prozent der Zuschauer ins Stadion - Störenfriede inklusive. So war es zumindest beim Fall Toni Leistner, der kürzlich für Schlagzeilen gesorgt hatte.

Die schwangere Frau des Profis vom Hamburger SV war beim Gastspiel bei Dynamo Dresden von einem Fan übel beleidigt worden. Das war zu viel für den 30-Jährigen, der in Dresden geboren und aufgewachsen ist - und vier Jahre für Dynamo die Schuhe schnürte. Leistner stürmte in die Zuschauerränge, stellte den Übeltäter zur Rede und stieß ihn zu Boden. Später telefonierten beide und sprachen sich aus.

Mehr soziale Kontrolle, weniger Beleidigungen

Für Fanforscher Harald Lange, Professor für Sportwissenschaft an der Universität Würzburg, ist solches Fanverhalten unter den gegenwärtigen Bedingungen im deutschen Profifußball ein Einzelfall. "Pöbeleien begleiten den Fußball von Beginn an. Aber Sprüche, die sonst in der Masse untergegangen wären, lassen sich nun einfach besser verstehen und zuordnen", sagt der Experte.

So hat sich Leistner von den hässlichen Worten des Fans direkt angesprochen gefühlt. "Das ist ein bisschen wie auf Arbeit. Da stellen Sie jemanden, der Sie beleidigt hat, ja auch zur Rede."

Eine Zunahme solcher Vorfälle hat Lange allerdings nicht beobachtet, seitdem wieder ein begrenztes Fan-Kontingent in die Stadien strömt. Eher im Gegenteil. "Die Menschen halten Abstand, sie tragen Masken und werden mit Namen registriert. Außerdem wird kein Alkohol ausgeschenkt." Diese Faktoren hätten dazu beigetragen, dass es aktuell deutlich ruhiger zugeht als in der Zeit vor der Pandemie.

Die soziale Kontrolle ist höher, die Fans können nicht mehr so einfach in der Masse verschwinden. "Die Pöbler halten sich derzeit zurück", fasst Lange zusammen. Auch beleidigende Gesänge sind ihm in den letzten Wochen nicht zu Ohren gekommen.

Warum Familienväter aus der Haut fahren

Ganz anders war das noch vor einem halben Jahr, vor Corona. Verhaltensweisen, die sonst sanktioniert werden, fallen im ausverkauften Stadion kaum auf. Sie werden "sozial akzeptiert und zum Teil sogar erwartet", erklärt der Gründer des Instituts für Fankultur e. V. "Gepöbel gehört zur Folklore dazu."

Emotionen wie Ärger, Wut und Enttäuschung lassen sich unter Zehntausenden Menschen problemlos ausleben. "Im Stadion sind wir geneigt, alles andere um uns herum zu vergessen", erklärt Lange. "Da wird der Respekt gegenüber dem Gegner schon mal hinten angestellt." Der sonst unauffällige Familienvater kann da schnell zum größten Pöbler werden.
Ein bisschen lässt sich das mit anonymen Hass-Kommentatoren ín den Sozialen Netzwerken vergleichen. "Wobei der Faktor Spontanität beim Fußball eine viel größere Rolle spielt", sagt Lange. Fiese Sprüche im Internet seien dagegen oft in einer etwas rationaleren Grundstimmung verfasst.

Dass es in den Stadien derzeit etwas höflicher zugeht, ist wahrscheinlich nur eine Momentaufnahme. Die Massen werden irgendwann zurückkehren, die Pöbler dürften ihr Comeback feiern, wenn die Stadien wieder voll sind, wenn wieder Alkohol ausgeschenkt wird und die Emotionen überkochen. "Wie genau der Fußball und das Stadionerlebnis nach Corona aussehen, wissen wir aktuell aber noch nicht", schränkt Lange ein. "Das ist eine ganz spannende Frage."

Verwendete Quellen:

  • Sportbuzzer.de: HSV-Profi Toni Leistner reagiert auf Fan-Attacke in Dresden: "War im Tunnel, voller Adrenalin"
  • Telefonat mit Prof. Harald Lange
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